Exklusiv „Jetzt kaum noch zu stoppen“: Warum Deutschlands größte Flüchtlingsunterkunft in Berlin-Tegel so teuer ist
Allein die Sicherheit kostet fast 250.000 Euro – jeden Tag. Tagesspiegel-Recherchen zeigen, wie Berlin sich in eine Situation manövriert hat, aus der es keinen einfachen Ausweg gibt.
Von
Anna Thewalt Valeriia Semeniuk Claudia von Salzen
Heute, 17:14 Uhr
Als der Bus 410 an diesem grauen Dezembermittag vor dem ehemaligen Flughafen Tegel hält, werden die wenigen Mitfahrer von zwei Sicherheitskräften in Empfang genommen. So ist es die Regel: Einer steht vorne neben dem Bus, einer hinten. „Hier bitte nicht stehen bleiben, sondern weitergehen“, scheucht einer von ihnen die Ankommenden in den Eingangsbereich von Terminal C.
Innen bei den neuen Gepäckscannern stehen 14 Sicherheitsleute um vier Geräte. Auch in den Schlaf- und Aufenthaltshallen stehen an jedem Ein- und Durchgang ein bis zwei Personen mit gelben Westen: Dort, wo aktuell 3729 geflüchtete Menschen leben, die meisten aus der Ukraine, ist das Sicherheitspersonal allgegenwärtig.
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Das Ankunftszentrum in Tegel ist die größte Flüchtlingsunterkunft in Deutschland. Als im März 2022 jeden Tag mehrere tausend Menschen aus der Ukraine am Berliner Hauptbahnhof eintrafen, musste das Land Berlin schnell handeln.
Der ehemalige Flughafen Tegel wurde umfunktioniert zu einem Zufluchtsort. Eine Übergangslösung sollte es sein, ein Ort, an dem die Menschen ankommen, versorgt werden – und dann weiterziehen in normale Unterkünfte.
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Zufluchtsort Tegel
Derzeit leben 2919 Menschen aus der Ukraine und 810 aus Syrien, der Türkei und anderen Ländern in den Leichtbauhallen auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens.
Bis vor kurzem waren es noch deutlich mehr: Mitte September lebten fast 5000 Menschen in der Unterkunft, insgesamt gibt es knapp 7000 Plätze. Doch in den vergangenen Wochen hat das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) etwa 1200 Menschen in reguläre Unterkünfte, darunter ein ehemaliges Hotel in Lichtenberg, verlegt.
Doch viele Geflüchtete blieben anders als ursprünglich geplant nicht nur ein paar Tage in Tegel, sondern viele Monate oder gar Jahre.
Manche leben schon zwei Jahre in Tegel
So wie Wira, eine Rentnerin aus Bachmut. Mit ihrer Schwester flüchtete sie aus ihrer umkämpften Heimatstadt erst nach Kramatorsk, im November 2022 kamen die beiden Frauen in Berlin an. Seitdem leben sie in Tegel. Wira ist dankbar, dass sie Schutz gefunden haben. „Hier ist es besser als unter den Bomben“, sagt sie.
Vor einem Jahr und acht Monaten kam Tetyana aus Charkiw nach Tegel. „Es ist einfach eine Hölle“, sagt die 47-Jährige, die in einer der Ess- und Aufenthaltshallen steht. Sie klagt über die fehlende Privatsphäre, ständige Konflikte mit den Nachbarn und auch Diebstähle. Sie begreife nicht, warum ihre Familie noch immer nicht in eine reguläre Unterkunft verlegt worden sei, sagt Tetyana.
Mehrere tausend Menschen kamen im März 2022 jeden Tag aus der Ukraine nach Berlin.
In der Vergangenheit hatte es in Tegel auch Beschwerden über das Sicherheitspersonal gegeben, in einem Brandbrief beschrieben Ukrainerinnen die Wachleute als übergriffig.
Mitte September waren noch fast 5000 Menschen in den Leichtbauhallen auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens untergebracht, in den vergangenen Wochen wurden etwa 1200 von ihnen in andere Unterkünfte verlegt.
Das macht sich bemerkbar: Früher lebten in Wiras Schlafbereich zehn Personen, heute sind sie zu dritt. Allerdings ist da noch der Lärm aus den benachbarten Räumen. „Wir versuchen, nicht darauf zu achten“, sagt Wira.
298
Millionen Euro kostete die Unterkunft 2023.
Doch Tegel bleibt die größte Flüchtlingsunterkunft Deutschlands. Die Kosten für die Unterkunft lagen 2023 nach Angaben der Sozialverwaltung bei 298 Millionen Euro, das sind mehr als 800.000 Euro täglich.
Wie konnte es dazu kommen, dass Tegel nicht nur die größte, sondern zugleich eine ungewöhnlich teure Flüchtlingsunterkunft ist? Recherchen des Tagesspiegels zeigen, wie Berlin sich in eine Situation manövriert hat, aus der es nun keinen einfachen Ausweg gibt. Das lässt sich am besten an den Kosten für die Sicherheit verdeutlichen.
Denn allein dafür hat das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) 2023 fast 90 Millionen Euro ausgegeben, rund 250.000 Euro pro Tag. Das geht aus einer dem Tagesspiegel vorliegenden Antwort der Sozialverwaltung auf eine Anfrage der Abgeordneten Elif Eralp (Linke) hervor.
Derzeit leben 3729 geflüchtete Menschen in den Leichtbauhallen und in Terminal C am ehemaligen Flughafen Tegel.
Das Land kam aus der Notsituation nicht heraus, sagt ein Insider
Dem Land, so sagt es ein mit den Vorgängen vertrauter Insider, sei es seit 2022 nicht gelungen, „aus der Notsituation herauszukommen in eine normale Situation mit normalen Vergabeverfahren, Zuständigkeiten und Preisen“. Deswegen seien die Kosten für den Sicherheitsdienst so hoch.
Anders als in den anderen Berliner Flüchtlingsunterkünften wird der Sicherheitsdienst in Tegel nicht vom Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) beauftragt, sondern von der Messe Berlin. Das landeseigene Unternehmen hatte am ehemaligen Flughafen Tegel schon das Corona-Impfzentrum betrieben und wurde vom LAF mit dem Aufbau von Zelten und Containern und dem Facility-Management der Flüchtlingsunterkunft betraut.
Auch für die Bereitstellung von Sicherheitskräften ist die Messe Berlin verantwortlich. Das Unternehmen griff dabei auf die Security-Firma Teamflex Solutions zurück, mit der es seit Jahren zusammenarbeitete und die auch für das Impfzentrum im Einsatz war.
Messe Berlin macht durch Tegel zweistellige Millionengewinne
Die Messe kassiert nach Tagesspiegel-Informationen für alle Leistungen, die über sie abgerechnet werden, eine Bearbeitungsgebühr von 15 Prozent. Das wirkt sich sehr deutlich auf ihr Gesamtergebnis aus: Im Jahr 2022 verzeichnete die Messe einen Konzerngewinn von knapp 27 Millionen Euro, ein Jahr später waren es immerhin noch mehr als 13 Millionen Euro.
Vor der Pandemie lag dagegen das Konzernergebnis gerade einmal 300.000 Euro im Plus. Von einer „Quersubventionierung“ des landeseigenen Unternehmens sprechen Experten.
Wie die Messe profitiert auch das Sicherheitsunternehmen offensichtlich sehr stark vom Großauftrag in Tegel. In seiner Bilanz für 2022 meldete Teamflex Solutions einen Gewinn von 8,2 Millionen Euro, drei Jahre zuvor waren es nur 450.000 Euro.
Die Umsatzrendite der Securityfirma hat sich im gleichen Zeitraum mehr als vervierfacht und lag 2022 bei 13,1 Prozent, wie aus einer Aufstellung von North Data hervorgeht. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass die Geschäfte in Tegel außergewöhnlich lukrativ sind.
Allein die Sicherheit im Ankunftszentrum Tegel kostet fast 250.000 Euro – jeden Tag.
Auch ein Finanzinvestor in Frankreich profitiert
Die Firma Teamflex Solutions gehört zur Hälfte ihrem Geschäftsführer, die andere Hälfte war früher im Besitz des Gegenbauer-Konzerns, der mittlerweile mit der Apleona-Gruppe fusioniert ist. Wer der Frage nachgeht, wer am Ende von den Gewinnen aus Tegel profitieren könnte, stößt auf ein komplexes Firmengeflecht, das über mehrere deutsche Holdings zu einer Firma in Luxemburg führt.
An dieser wiederum haben zum einen die Familie Gegenbauer sowie ein ehemaliger Gegenbauer-Manager Anteile, zum anderen gehört sie einer Private-Equity-Gesellschaft mit Sitz in Paris, die Unternehmen aufkauft. Am Ende landet also ein Teil der Gewinne aus der Flüchtlingsunterkunft in Tegel bei einem großen Finanzinvestor in Frankreich.
Auffällig ist auch, dass die Kosten für den Sicherheitsdienst massiv gestiegen sind. Während von Mitte März bis Ende Dezember 2022 insgesamt mehr als 43 Millionen Euro ausgegeben wurden, war es im folgenden Jahr bereits mehr als doppelt so viel. Nach Tagesspiegel-Recherchen lag dies nur zum Teil daran, dass in den ab Ende 2022 genutzten Leichtbauhallen zusätzliches Personal für den Brandschutz benötigt wurde.
Je 230 Security-Mitarbeiter arbeiten in zwei Schichten
Insgesamt arbeiten in Tegel derzeit nach Angaben der Sozialverwaltung jeweils 230 Security-Mitarbeiter in zwei Schichten. Noch Ende September gab die Messe Berlin an, dass pro Schicht rund 300 Personen im Einsatz sind. Teamflex ließ Fragen des Tagesspiegels unbeantwortet.
Die Konstellation führt dazu, dass das sehr teuer wird.
Insider
Der Sicherheitsdienst habe mittlerweile eine „enorme Machtstellung“, sagt der Insider, der mit den Vorgängen im Detail vertraut ist, sich aber öffentlich nicht äußern darf. Kein anderes Unternehmen in Berlin könne innerhalb von kurzer Zeit mehrere hundert Sicherheitskräfte zur Verfügung stellen.
„Diese Konstellation führt dazu, dass das sehr teuer wird“, so der Insider. „Jetzt ist das kaum noch zu stoppen.“ Sollte der Sicherheitsdienst seine Leute kurzfristig aus Tegel abziehen, wäre es nicht mehr möglich, die Unterkunft zu betreiben.
Ausschreibung des LAF wurde durch die Firma gestoppt
Das LAF hat bereits versucht, den Umweg über die Messe zu beenden und selbst Auftraggeber für die Sicherheit zu werden. Doch als das Amt den Auftrag Anfang 2023 erstmals ausschrieb, ging die Firma Teamflex nach Recherchen des Tagesspiegels dagegen vor und beschwerte sich bei der Vergabekammer. Daraufhin zog das LAF die Ausschreibung zurück.
Im Dezember vergangenen Jahres schrieb die Messe den Auftrag zum 1. Juli 2024 aus. Den Zuschlag erhielt Teamflex. Der Vertrag läuft nach Tagesspiegel-Informationen bis Ende kommenden Jahres.
Manche Menschen leben seit zwei Jahren in der Unterkunft.
Dabei waren während einer Razzia von Zoll, Polizei und Ordnungsämtern im Dezember 2023 in Tegel Unregelmäßigkeiten entdeckt worden: 55 Wachleute mussten sofort ihren Dienst beenden, weil die erforderlichen Qualifikationen oder die Zuverlässigkeitsüberprüfung fehlten. Während Teamflex gegenüber der Messe 13 Nachunternehmer benannt hatte, wurden vor Ort Mitarbeiter von 48 Unternehmen angetroffen.
„Im Vertrag mit dem Sicherheitsdienstleister ist geregelt, dass keine Subunternehmen von Subunternehmen beschäftigt werden dürfen“, sagte der Messe-Sprecher. „Aktuell arbeitet unser Sicherheitsdienstleister mit 14 Subunternehmen.“
Zwölf Strafverfahren nach Zoll-Kontrolle
Der Zoll habe nach der Kontrolle in Tegel die Geschäftsunterlagen der 48 Firmen geprüft, sagte der Sprecher des Hauptzollamts Berlin dem Tagesspiegel. Neben Ordnungswidrigkeitsverfahren seien auch zwölf Strafverfahren eingeleitet worden. Die Ermittlungen dauern an.
Der Tagesspiegel wollte sowohl vom LAF als auch von der Messe Berlin wissen, ob es sich bei den 90 Millionen Euro für die Sicherheit nach ihrer Einschätzung um marktübliche Preise handelt. Das LAF ließ Fragen zum Thema Sicherheit unbeantwortet und verwies an die Messe.
Die wiederum antwortete: „Die Details unserer Aufträge unterliegen Geschäftsgeheimnissen.“ Die Sicherheitsdienstleistungen in Tegel seien im Rahmen einer öffentlichen Ausschreibung vergeben worden und basierten „auf dem Wettbewerb der teilnehmenden Unternehmen“.
Zugleich weist die Messe darauf hin, dass zur Senkung der Kosten für die Sicherheitsdienstleistungen „Maßnahmen zur Prozessoptimierung“ umgesetzt worden seien. „Die Kostenreduzierungen greifen in der zweiten Jahreshälfte 2024.“
Die Linken-Abgeordnete Eralp fordert, der Senat solle das Outsourcing an Unternehmen und Subunternehmen „dringend überdenken“. Die Angaben des Senats zu den Kosten zeigten, dass die Auslagerung von Dienstleistungen wie dem Sicherheitspersonal „sehr teuer“ sei.
Abgeordneter darf Vertrag nicht einsehen
Selbst Abgeordnete versuchen vergeblich, mehr Informationen über den Deal zwischen der Messe und der Sicherheitsfirma zu erhalten. Der Grünen-Politiker Jian Omar beantragte Einsicht in die entsprechenden Verträge. Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) leitete den Antrag an die Senatsverwaltung für Wirtschaft weiter, die für die Messe zuständig ist.
Doch die lehnte den Antrag ab. Diese Unterlagen lägen der Senatsverwaltung nicht vor, schrieb Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD). Zugleich wies sie den Abgeordneten darauf hin, dass er das Recht auf Akteneinsicht nicht bei der Messe geltend machen könne. Denn dieses Recht beziehe sich nur auf Unterlagen „der Verwaltung“, argumentierte Giffey. Die Messe Berlin sei aber „als privatrechtliches Landesunternehmen weder mittelbarer noch unmittelbarer Teil der Verwaltung“.
Mit der Ablehnung unseres Antrags auf Akteneinsicht verhindert der Berliner Senat erneut die notwendige parlamentarische Kontrolle.
Omar will Widerspruch gegen die Entscheidung einlegen. „Mit der Ablehnung unseres Antrags auf Akteneinsicht verhindert der Berliner Senat erneut die notwendige parlamentarische Kontrolle“, sagte er dem Tagesspiegel. Angesichts der „offenbar überteuerten Verträge zu Tegel und der Unstimmigkeiten bei den hohen Provisionskosten für die Messe Berlin“ müssten die Verträge genau geprüft werden.
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Das ungewöhnliche Konstrukt hat auch die Aufmerksamkeit des Berliner Rechnungshofes erregt. Dieser prüft derzeit beim LAF und bei der Messe die Beauftragung der Sicherheitsdienstleistungen in Tegel, wie ein Sprecher dem Tagesspiegel sagte. Wegen der laufenden Prüfungen könne der Rechnungshof zu den Inhalten keine Angaben machen.