In der vergangenen Woche kam es in mehreren britischen Städten zu Ausschreitungen, bei denen Moscheen, Asylunterkünfte und Polizeistationen von einem Mob angegriffen wurden, der rassistische und antimuslimische Parolen rief. Ausgelöst wurden die Proteste durch einen Messerangriff in Southport, bei dem drei Kinder getötet worden waren. Erstochen von einem Mann, über den es erst fälschlicherweise hiess, er sei ein muslimischer Asylsucher.
Um zu verstehen, warum diese Krawalle ausbrachen, muss man wissen, dass das nicht die ersten schweren Ausschreitungen in den Tagen nach den Parlamentswahlen waren. Und man muss nicht nur auf die rechtsextremen Kreise in der britischen Bevölkerung schauen, sondern auch auf ihre migrantischen und vor allem auf ihre muslimischen Minderheiten. Und den Umgang des Staates mit ihnen.
«Allahu akbar» und Machetenkämpfe
Den Ausschreitungen ging etwa ein Aufstand in Leeds am 18. Juli voraus. Nachdem das Sozialamt die vier Kinder einer Sinti-und-Roma-Einwandererfamilie abgeholt hatte, wurden Busse in Brand gesetzt, ein Polizeiauto umgeworfen und die Beamten mit Gegenständen beworfen. Obwohl in Videos der Ausschreitungen «Allahu akbar»-Rufe zu hören waren, schwiegen die Medien und Behörden beharrlich über die ethnische Zugehörigkeit der Randalierer.
Dass die neue Regierung künftig allerdings mit noch mehr ethnisch geprägten Herausforderungen konfrontiert sein wird, machten die darauffolgenden zwei Wochen deutlich: Am 23. Juli kam es zu einer brutalen Konfrontation zwischen Polizeibeamten und zwei pakistanisch-britischen Brüdern am Flughafen von Manchester.
Am 25. Juli stach ein junger schwarzer Mann in Kent auf einen Armeeangehörigen ein, der in kritischem Zustand liegen blieb. Dieser Angriff, der möglicherweise rassistisch oder religiös motiviert war, fand in den Nachrichten und auch bei der Regierung nur wenig Beachtung – in den sozialen Netzwerken jedoch sehr viel. Am selben Tag wie das Massaker von Southport kam es im Southend zu einer Machetenschlacht zwischen maskierten Jugendbanden. Diese Vorfälle nährten die Erzählung der Demonstranten und ihrer Anhänger, dass ihr Land aus den Fugen geraten sei.
Westminster schaut nicht hin
Nichts entschuldigt die Gewalt der rechtsextremen Demonstranten. Aber um künftige Gewaltausbrüche zu vermeiden, wäre es ratsam, die Gründe zu untersuchen, die die Demonstranten motiviert haben könnten. Und zu ergründen, warum sie in der Bevölkerung eine gewisse passive Unterstützung geniessen.
Doch in Westminster ist man dafür wenig empfänglich. Die Zugehörigkeit der Randalierer zur weissen Unterschicht, zusammen mit der Desinformation in den sozialen Netzwerken über die Herkunft des Täters von Southport, reicht dort als Erklärung.
Die wichtigste Reaktion der Regierung war denn auch der Ruf nach einer strengeren Regulierung von Sprache und Meinungsäusserung – obwohl die bestehenden Gesetze streng genug sind, um einen Demonstranten ins Gefängnis zu bringen, weil er «Who the fxxk is Allah» sang.
Doch die Tatsache, dass sich die Unruhen in der vergangenen Woche dort entzündeten, wo sie sich entzündeten, ist ein deutlicher Hinweis auf umfassendere, seit langem schwelende Probleme.
Die vernachlässigte Unterschicht
Ein wichtiger Faktor in der Erklärung der gegenwärtigen Ausschreitungen liefert die Vernachlässigung der weissen Unterschichten durch den Staat. Und die Tatsache, dass dieser ausgerechnet die am meisten benachteiligten Gebiete des Landes für die Unterbringung von Migranten ausgewählt hat. Besonders dort stieg die Beunruhigung über den enormen Anstieg der Einwanderung in den letzten 26 Jahren.
Allein im Jahr 2023 kamen 1,2 Millionen legale Einwanderer und eine unbekannte Zahl illegaler Einwanderer hinzu – ohne öffentliche Debatte oder ein demokratisches Mandat. Das verändert eine Gesellschaft. Und obwohl hier keine Assimilationsinfrastruktur existiert, war das Vereinigte Königreich bei der Aufnahme und Integration von Einwanderern aus Entwicklungsländern rund um den Globus erfolgreicher als viele andere europäische Staaten.
Dieser Erfolg führte zu einer gewissen Selbstgefälligkeit der Elite in Bezug auf die Auswirkungen der Masseneinwanderung auf schwächere einheimische Gemeinschaften. Die Auswirkungen der Aufnahme von Menschen mit intoleranten oder sozial rückschrittlichen Ansichten auf die Gesellschaft wurden übersehen. Ebenso, dass das Asylsystem von Personen, bei denen es sich eher um Wirtschaftsmigranten als um echte Flüchtlinge handelt, missbraucht werden könnte.
Sexualstraftäter und Verbrecherbosse
Das Unbehagen in der Bevölkerung wird mit Rassismus und Vorurteilen erklärt. Doch dieser Ansatz genügt nicht. Ganz normale Menschen sehen, was in ihren Städten und Gemeinden passiert. Sie ärgern sich darüber, dass die lokalen Behörden Asylbewerbern Notunterkünfte zur Verfügung stellen, während britische Bürger seit Generationen auf bessere Behausungen warten.
Aufgrund einer Reihe von Skandalen assoziieren viele das Asylsystem mittlerweile mit Berichten über die Aufnahme von verurteilten Sexualstraftätern, albanischen Verbrecherbossen und IS-Fanatikern. Gleichzeitig verstehen sie nicht, warum afghanischen Dolmetschern, die mit den britischen Streitkräften in Afghanistan zusammengearbeitet haben, die Aufnahme verweigert wird.
Die aufeinanderfolgenden Regierungen haben versprochen, die Masseneinwanderung zumindest geordneter zu gestalten – aber kaum wirksame Massnahmen ergriffen. Wenn die politische Klasse die Masseneinwanderung überhaupt als problematisch betrachtet, dann nur wegen des Drucks, den die «Nettozuwanderung» auf Ressourcen wie Wohnraum ausübt. Es wird nicht anerkannt, dass durch die Migration aus Gesellschaften mit sehr andersartigen Einstellungen zu Politik, Religion, Bildung oder Sexualität auch nichtwirtschaftliche Probleme entstehen können.
Wer seine Besorgnis über negative Auswirkungen auf den sozialen Zusammenhalt oder soziales Kapital wie Vertrauen zum Ausdruck bringt, riskiert, als «rechtsextrem» verteufelt zu werden. Und das, obwohl sogar die ethnischen Minderheiten Grossbritanniens selbst eine unkontrollierte Einwanderung ablehnen: Der grösste Geldgeber der populistischen Reformpartei bei der letzten Wahl war der pakistanisch-britische Geschäftsmann Zia Yusuf.
Das «muslimische Problem»
Schliesslich gibt es einen weiteren, sehr konkreten Faktor für die Ausschreitungen: das sogenannte «muslimische Problem». Die diesem Problem zugrunde liegenden Spannungen in der Gesellschaft wurden durch die Angriffe der rechtsextremen Randalierer auf Moscheen und die darauffolgenden Gegenbewegungen muslimischer Männer, von denen einige maskiert waren, palästinensische Flaggen trugen und auch unbeteiligte weisse Menschen angriffen, deutlich.
Es ist leicht, diese Probleme als das Ergebnis von «Islamophobie» zu verharmlosen. Doch unangenehme Zwischenfälle während der jüngsten Wahlen und der bedrohliche Antisemitismus, der bei den grossen Anti-Israel-Protesten in London seit dem 7. Oktober zu beobachten ist, haben heikle Fragen zur muslimischen Bevölkerung Grossbritanniens und zu ihren Beziehungen mit anderen Gemeinschaften aufgeworfen.
In vielerlei Hinsicht stellen Grossbritannien und seine muslimischen Gemeinschaften eine bemerkenswerte Geschichte der erfolgreichen Integration dar. Die Liste der britischen Muslime, die in der Wirtschaft, der Unterhaltung, der Politik, den Medien, der Kunst oder dem Sport eine wichtige Rolle spielen, ist lang. Es gibt 24 muslimische Peers im Oberhaus und 25 Abgeordnete im Unterhaus.
Viele der populärsten Persönlichkeiten des Landes sind Muslime, darunter die Hijab-tragende Bäckerin und Autorin Nadiya Hussein. Vier von fünf britischen Muslimen sind der Meinung, dass das Vereinigte Königreich ein besserer Ort für Muslime sei als Frankreich, Deutschland oder die Niederlande.
Verallgemeinerungen über die britische muslimische Bevölkerung sind zwangsläufig irreführend. Sie ist in Bezug auf die soziale Schicht, die Bildung, die konfessionellen Präferenzen und die politischen Orientierungen sehr heterogen. Sie umfasst die am stärksten assimilierten Muslime in der westlichen Welt, aber auch ihr Gegenteil – glühende Traditionalisten, die die reaktionärsten Versionen der Wahhabi- und Deobandi-Lehre vertreten. Diese Traditionalisten sind einflussreicher geworden, als vielen Menschen bewusst ist.
Parallele Rechtssysteme entstehen
In einigen muslimischen Gemeinden Grossbritanniens entwickeln sich Scharia-Gerichte zu einem parallelen Rechtssystem, das Frauen in Fragen der häuslichen Gewalt, Scheidung und Polygamie benachteiligt. Dazu kommt die Entstehung von «No-go-Areas» für Homosexuelle, etwa der Londoner Stadtteil Tower Hamlets.
Hinzu kommt die ständige kulturelle Zensur durch die Androhung von Gewalt. Das Phänomen begann mit der Fatwa gegen Salman Rushdie, die viele britische Muslime öffentlich befürworteten. Weiter wagte es keine britische Publikation, die dänischen Mohammed-Karikaturen nachzudrucken. Und als ein Lehrer in Yorkshire seiner Klasse im März 2021 eine Zeichnung aus der französischen Zeitschrift Charlie Hebdo zeigte, musste er untertauchen – bis heute.
Ein weiteres schwieriges Thema ist der Import subkultureller Praktiken aus Südasien und dem Nahen Osten: Kinderheirat, weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsheirat, Heirat mit dem ersten Cousin oder die Verpflichtung vorpubertärer Mädchen, einen Hijab zu tragen.
Keine dieser Praktiken ist an sich oder ausschliesslich islamisch, aber sie werden von ihren Anhängern als religiöse Praxis gerechtfertigt. Leider ist der britische Staat nicht geneigt, die bestehenden Gesetze anzuwenden: Genitalverstümmelung etwa ist seit 1985 illegal, aber bis 2019 wurde noch niemand dafür verurteilt. Die Angst, dass die Durchsetzung des Gesetzes als islamfeindlich angesehen werden könnte, übertrumpfte die Pflicht, die überwiegend muslimischen Frauen und Mädchen zu schützen. Damit trägt der britische Staat eine grosse Verantwortung für das Fortbestehen solcher Praktiken.
Der Deal des Imperiums
Seit den ersten islamistischen Terroranschlägen im Jahr 2005 hat das britische Establishment ein altes imperiales Modell für den Umgang mit problematischen Gemeinschaften gewählt: einen Deal mit selbsternannten Gemeindeführern zu schliessen. Als Gegenleistung für die Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung erlaubt der Staat ihnen, ihre Gemeinden so zu führen, wie sie es für richtig halten. Selbst wenn das bedeutet, dass britisches Recht über Bord geworfen wird.
Die Vereinbarung sieht auch vor, dass keine öffentliche Diskussion über schwierige Fragen im Zusammenhang mit der Einwanderung stattfindet. Es wäre undenkbar, dass hierzulande eine Debatte über ein Minarettverbot nach Schweizer Vorbild geführt würde oder dass ein seriöser Politiker Beschränkungen für die Vollburka nach französischem oder dänischem Vorbild vorschlägt.
Ähnlich verhält es sich mit dem Tolerieren von sogenannten Hassreden: Pro-Hamas-Demonstranten, die in Whitehall zur Tötung von Juden aufriefen, wurden nicht verhaftet oder strafrechtlich verfolgt.
Die aufgestauten Ressentiments
Als Anti-Terror-Strategie war das Abkommen nicht erfolgreich. Islamistische Terroranschläge machen immer noch die grosse Mehrheit der Terroranschläge aus. In einigen Gemeinschaften hatte die Strategie den Fundamentalismus sogar gefördert: Besucher aus muslimischen Ländern sind oft schockiert darüber, dass Hijab und Nikab in England weiter verbreitet sind als in ihrer Heimat.
Der Unmut über die Doppelmoral des Staates geht über Fragen der Politik oder der Praktiken einiger britischer Muslime hinaus. Den weissen Arbeitern ist nicht entgangen, dass sie die einzige Gruppe sind, die ethnischen Verunglimpfungen ausgesetzt werden darf – und dass es für Kommentatoren in den Medien in Ordnung ist, sie als «Gammons» («Schinken», eine Beleidigung, die auf die Gesichtsfarbe einer weissen Person zielt, die in einer Mischung aus Wut und Eifer mit geröteten Wangen ihre Meinung kundtut) zu verspotten.
Diese Ressentiments haben sich aufgestaut. Ihre Auswirkungen zeigten sich bei den gewalttätigen Protesten der letzten Woche, an denen auch Menschen teilnahmen, die keine Verbindungen zur extremen Rechten oder Sympathien für sie haben. Etwa das homosexuelle Paar, das in Hartlepool die Polizei anschrie.