"Deutschland braucht eine neue Verteidigungspolitik: Schluss mit dem parasitären Pazifismus
Wladimir Putin bedroht den Westen, und Donald Trump erwartet von den Europäern, dass sie mehr für ihre Sicherheit tun. Die Bundesrepublik muss deshalb sehr viel schneller verteidigungsfähig werden. Ein Vorschlag in sieben Punkten.
Früher wurde die Bundesrepublik bewundert. Heute ist das Land ein Sanierungsfall. Das kann sich ändern – mit Reformen, die diesen Namen verdienen. Die NZZ macht Vorschläge – in einer neuen Serie mit dem Titel «Deutschland kann es besser». In der zweiten Folge geht es um die Themen äussere Sicherheit und Verteidigung.
Die nächste deutsche Bundesregierung muss mehr Geld in die Armee investieren, die Wehrpflicht wieder einführen, die Strukturen der Streitkräfte endlich auf die Landesverteidigung ausrichten und die Rüstungsindustrie in die Gänge bringen. Das alles könnte man hier sagen. Es wäre nicht falsch, aber der Schritt in die Vereinfachungsfalle.
Wenn es um Deutschlands Verteidigung geht, darf nicht die Frage «Was muss getan werden?» an erster Stelle stehen, sondern «Wozu soll etwas getan werden?».
Die wichtigsten Faktoren liegen auf der Hand: Wladimir Putins Krieg in der Ukraine und Donald Trumps «America first»-Politik. Anders gesagt: Putin bedroht das Demokratiemodell des Westens, und Trump erwartet zugleich, dass die Europäer mehr für ihre Sicherheit tun. Amerika verteidigt die europäische Freiheit? Damit ist es wohl vorbei.
Die noch amtierende Aussenministerin Annalena Baerbock hat schon vor zwei Jahren gesagt, die Zeit des «parasitären Pazifismus» sei zu Ende. Damit hatte die Grünen-Politikerin recht. Militärische Abschreckung und Friedenssicherung sind zwei Schuhe eines Paares.
Warum der Kalte Krieg nicht heiss wurde
Es sei daran erinnert: Der westdeutsche Aufstieg nach 1945 verdankt sich nicht zuletzt den Waffen der USA, ihren Atomraketen und Panzern. Washingtons Politik der Abschreckung gegenüber der Sowjetunion half entscheidend, Europa friedlich durch den Kalten Krieg zu bringen.
Was in den drei Jahrzehnten nach dessen Ende ausserhalb der deutschen Gedankenwelt lag, muss jetzt wieder bedacht werden: Die liberale Demokratie, das freie Leben, der Wohlstand, sie werden attackiert und müssen verteidigt werden. Den Krieg denken, damit er gar nicht erst ausbricht – das wird eine zentrale Aufgabe der neuen Regierung.
Sie muss den Deutschen auch gegen vermeintlich pazifistische Widerstände sagen, was ist: dass Krieg und militärische Macht in vielen Teilen der Welt wieder als legitime Mittel gelten, um Interessen durchzusetzen, siehe Russland. Deutschlands Sicherheit beruht nicht mehr nur auf Diplomatie. Es braucht auch militärische Stärke. Der Einsatz der Bundeswehr, die Beteiligung grosser Truppenverbände an einem Krieg, das ist keine Fiktion mehr, sondern eine realistische Möglichkeit. Wenn man sich das bewusst macht, dann sind die folgenden Massnahmen geradezu zwingend.
1. Mehr Geld
Der US-Präsident Trump fordert, die Nato-Mitglieder – die Vereinigten Staaten ausgenommen – sollten künftig 5 Prozent ihres Bruttoinlandprodukts (BIP) für Verteidigung ausgeben. Nato-Generalsekretär Mark Rutte hat zwar nicht ganz so grosse, aber immer noch sehr ambitionierte Vorstellungen; er sprach kürzlich von mehr als 3 Prozent. Was künftig gilt, dürfte im Sommer klar sein. Dann ist der nächste Nato-Gipfel in Den Haag.
Schon 3 Prozent entsprächen in Deutschland in absoluten Zahlen etwa 130 Milliarden Euro. Das wäre ein gewaltiger Sprung. Die scheidende Bundesregierung wollte den regulären Wehretat auch der kommenden Jahre bei 52 Milliarden Euro belassen. Davon kann die Bundeswehr aber kaum neue Waffen kaufen; das Geld geht für Personal und Betrieb drauf. Deshalb gibt es ein 100 Milliarden Euro schweres «Sondervermögen», aus dem alles beschafft werden soll, was fehlt. Der Wehretat und diese zusätzlichen Staatsschulden zusammen ergeben derzeit gut 2 Prozent des BIP – allerdings nur so lange, bis das «Sondervermögen» ausgegeben ist.
Der reguläre Wehretat muss daher kontinuierlich wachsen, um nicht schlagartig 40 oder, nach Ruttes Rechnung, bis zu 80 Milliarden Euro mehr pro Jahr ansteigen zu müssen. Das wäre eine Steigerung, die jede Regierung zum Scheitern brächte. Die neuen Verantwortlichen in Berlin müssen daher schnell klären, woher sie das zusätzliche Geld in den nächsten Jahren nehmen wollen. Um es mit Heereschef Alfons Mais zu sagen: «Alles, was wir jetzt nicht finanzieren werden, bezahlen wir im Ernstfall mit schwarzen Säcken.» Er meint Leichensäcke.
2. Streitkräfte planen per Gesetz
Dänemark und Schweden machen vor, wie es gehen kann. In einem langfristigen Turnus (alle vier bis sechs Jahre) legen beide Länder parteiübergreifend fest, wie sie ihre Streitkräfte entwickeln wollen. Diese Abkommen erhalten Gesetzescharakter und sind nicht so leicht zu umgehen, wie es deutsche Regierungen in der Vergangenheit mit den Bundeswehrplanungen getan haben. Eine Armee aus einem Guss, das gibt es in der Bundesrepublik nicht. Die Pläne sind Stückwerk, abhängig vom Haushalt, der jeweils für ein Jahr gilt.
Ein Planungsgesetz für die Streitkräfte muss her, transparent und bindend für mehrere Jahre, mit der Festlegung auf das benötigte Geld und die Rüstungsbeschaffungen sowie die Definition, was die Truppe können soll. Weil man den Gegnern sinnvollerweise nicht offenlegt, wie viele Panzer, U-Boote und Raketen man kaufen will, sollten bestimmte Abschnitte des Gesetzes als geheim eingestuft werden.
3. Aufbau «organischer Grossverbände»
«Organisiere dich, wie du kämpfst»: Das ist eigentlich eine militärische Binsenweisheit. Doch in den vergangenen 30 Jahren haben die Strukturen der Bundeswehr kaum zu ihren Aufgaben gepasst. Das war in der Ära der Auslandseinsätze so, als die Truppe noch auf Landesverteidigung ausgelegt war. Und es ist heute noch so. Die Strukturen entsprechen dem Werkzeugkasten-Prinzip: Ich nehme hier und dort etwas und baue einen Einsatzverband für, zum Beispiel, Mali. Gegen Putins Truppen könnte man so nicht kämpfen. «Organische Grossverbände» sind gefragt. Das sind Divisionen, die aus sich selbst heraus kämpfen können.
Das Warum liegt auf der Hand. Eine Division braucht nicht nur Kampftruppen mit Gerät, sondern auch Sanitäter, Logistiker, Feldjäger, Flugabwehr und ABC-Abwehr: alles aus einem Guss und unter einem Kommando, schon in Friedenszeiten. Bis jetzt sind Kampf- und Unterstützungsverbände in verschiedenen Organisationsbereichen und Kommandos verstreut. Das muss aufhören. Eine echte Umgliederung ist erforderlich und nicht Reförmchen, wie sie der amtierende Verteidigungsminister Boris Pistorius der Bundeswehr verordnet hat. Der Sozialdemokrat hatte sich von Beharrungskräften in seinem Ministerium ausbremsen lassen.
Für die nächste Person an der Spitze des Verteidigungsministeriums gilt: Sie muss sich auch gegen innere Widerstände in der Bundeswehr rigoros durchsetzen können.
4. Minister mit Ahnung
Die Lage ist zu ernst für eine weitere Christine Lambrecht. Das Verteidigungsministerium braucht eine Führungspersönlichkeit, die sich auskennt: mit der Weltlage, der Geopolitik, der Nato, der Bundeswehr und auch der Rüstungsindustrie. Fachkenntnis und Kompetenz sind die entscheidenden Kriterien bei der Auswahl, nicht Parteiproporz und auch nicht Geschlechterparität wie vor drei Jahren bei der SPD-Ministerin. Es darf nicht wieder sein, dass jemand ins Amt kommt, der Monate braucht, bis er die Dienstgrade der Bundeswehr verstanden hat.
Der neue Minister oder die neue Ministerin muss zudem den Rückhalt des Kanzlers haben und vom ersten Tag an im Stoff sein. Am besten hat er oder sie bereits konkrete Pläne: für die Umgliederung, den Wehrdienst, dafür, wie die Bundeswehr wieder vom Kopf auf die Füsse gestellt werden soll.
5. Dienstpflicht für alle
Im Jahr 2005 hatte die Bundeswehr gut 250 000 Soldaten, die sie in dem Umfang nicht brauchte; damals gab es noch die Wehrpflicht. Heute hat sie knapp 180 000 Soldaten und benötigt dringend mehr. Eine Rolle rückwärts ist also angesagt: zurück zu 250 000 Soldaten und ähnlich vielen Reservisten. Diese Notwendigkeit ergibt sich schon aus den Zusagen der Regierung in der Nato: Deutschland muss mutmasslich allein fünf bis sieben weitere Kampf- und Unterstützungsbrigaden aufstellen. So wie bisher mit Berufssoldaten lässt sich der Personalbedarf nicht mehr decken.
Das ist der Augenblick für eine neue Dienstpflicht. Frauen und Männer, gleichberechtigt und ohne Ausnahme, dienen für ein Jahr, ob im Militär oder in anderen, zivilen Bereichen. Für diesen Paradigmenwechsel gibt es keine Alternative. Die nächste deutsche Regierung muss die Gesellschaft überzeugen und schnellstens die rechtlichen und organisatorischen Voraussetzungen schaffen. Die Bundeswehr braucht in einem ersten Schritt 30 000 Wehrpflichtige. Mehr könnte sie erst einmal nicht verkraften. Aber es würde helfen, zügig auf 250 000 Soldaten zu kommen.
6. Rüstungsindustrie in die Gänge bringen
Waffenbau in Deutschland ist Manufakturarbeit. Die Rüstungsbranche hat seit dem russischen Überfall auf die Ukraine nur in geringem Masse ihre Kapazitäten erweitert. Es gibt immer noch kaum grössere Fertigungsstrassen für Munition oder Panzer – und die Regierung lässt das Ganze laufen. Was aber soll eine «Zeitenwende», wenn die Industrie, die die benötigten Waffen produzieren muss, nicht in die Gänge kommt?
Der Grund ist hausgemacht. Die Industrie zweifelt an einer langfristigen Beauftragung und investiert nicht im eigentlich nötigen Umfang. Das Misstrauen stammt aus einer Zeit, als die Bundeswehr kaum Aufträge erteilte. Es reicht deshalb nicht, die Zuständigkeit einem Staatssekretär im Verteidigungsministerium zu überlassen. Rüstung muss Chefsache werden: Der nächste Kanzler sollte einen Rüstungskoordinator berufen, der ihm direkt berichtet.
7. Auf den Krieg vorbereiten
Die Bundeswehr ist schwerfällig, überreguliert und risikoscheu. Offiziere sind heute zu oft keine Kämpfer, sondern Bürokraten. Mitunter kommt man mit dem richtigen Parteibuch weiter als mit kritischem Kopf. So darf es nicht weitergehen. Kriegstüchtigkeit ist kein schneidiger Begriff, sondern eine sicherheitspolitische Notwendigkeit. Dafür braucht es ein neues Denken. Die nächste Regierung muss es befördern – und die entsprechenden Leute.
Der österreichische Oberst und Kriegsanalyst Markus Reisner postet immer wieder Videos aus der Ukraine: zerstörte Panzer, zerfetzte Soldaten, Drohnen, die sich auf wehrlose Verwundete stürzen. Krieg sei die Hölle, schreibt er stets dazu – und dass sich nicht jeder diese Bilder anschauen sollte. Soldaten aber, ergänzt er, müssten das tun. Sie müssten wissen, was sie im Ernstfall erwarte.
Die nächste deutsche Regierung muss für eine Bundeswehr sorgen, die schnellstens einsatzfähig ist. Sich dabei über den Horror des Krieges keine Illusionen zu machen, gehört auch dazu. Die Soldaten müssen wissen, dass es schnell ernst werden kann, im Baltikum zum Beispiel oder auch in der Ukraine. So unwahrscheinlich es scheinen mag, aber die neuen Verantwortlichen in Berlin sollten sich rasch Gedanken machen, wie die deutsche Beteiligung an einer internationalen Schutztruppe in der Ukraine aussehen könnte.
Ich stimme jedem einzelnen Punkt des Artikels zu und bin aber gleichzeitig der Meinung dass all das nicht reichen wird als Land "kriegstauglich" zu werden. Deutschland braucht drigend eine grundlegend andere Einstellung innerhalb der Bevölkerung zur Bundeswehr und eine andere Herrangehensweise an das Thema "Krieg" an sich.