Manche halten den schwedischen Sozialstaat für ein Schlaraffenland. Welch ein Irrtum.
Der Krankenstand in Deutschlands Betrieben ist dieses Jahr so hoch wie nie zuvor. So hoch, dass sich kürzlich ein Topmanager eines Konzerns zu einer regelrechten Tirade über die auf den Hund gekommene deutsche Arbeitsmoral hinreißen ließ. Der Mann ist sonst ein höflicher Mensch, er kommt aus Schweden.
Ausgerechnet aus Schweden, aus dem oft besungenen sozialdemokratischen „Volksheim“, dem Sozialstaat schlechthin. Hat der Staat dort für seine Bürger nicht alles so plüschbequem eingerichtet, dass Krankfeiern allgegenwärtig ist?
Pustekuchen. Blättern wir die einschlägigen Statistiken auf. Wer arbeitet mehr, die Schweden oder die Deutschen? Die Schweden, im Durchschnitt fast hundert Stunden mehr im Jahr. Bei der Erwerbsbeteiligung liegen beide Länder zwar fast gleichauf, aber es gibt einen wichtigen Unterschied: Die Deutschen lieben Teilzeit. Dieses Arbeitsmodell kommt hierzulande doppelt so häufig vor wie im Vollzeitreich von König Carl XVI. Gustaf und Kronprinzessin Victoria. Und wer meldet sich häufiger krank, die Schweden oder die Deutschen? Es sind die Deutschen, die auf fast doppelt so viele Krankentage im Jahr kommen. Hier ist der Krankenstand seit der Corona-Pandemie kräftig gestiegen, in Schweden dagegen gesunken.
Kranksein in Deutschland angenehmer?
„Die Wikinger waren ja auch nie krank“, sagt Sven Jochem von der Universität Konstanz zu dem Befund. Der Politikwissenschaftler ist Fachmann für den Vergleich von Sozialsystemen, und er hat neben diesem historischen Scherz noch eine Reihe seriöser Erklärungen für den auffälligen Unterschied auf Lager. Die erste: In Schweden gibt es, anders als in Deutschland, einen Karenztag. Das heißt, am ersten Krankheitstag bekommen die Beschäftigten keinen Lohn. Gegen diese Regel gibt es auch in Schweden einige Bedenken, weil sie womöglich Leute in die Fabriken und Büros bringt, die besser daheim im Bett lägen. Dass die Regel unterm Strich mit einem deutlich niedrigeren Krankenstand einhergeht, haben allerdings internationale Studien belegt.
Ein zweiter plausibler Grund dafür, dass die Schweden nicht so oft krank daheimbleiben wie die Deutschen: Ihr Sozialsystem ist anders gestrickt als unseres. Die Ausgaben für Sozialleistungen sind, im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt, in beiden Ländern zwar ungefähr gleich hoch. Aber während in Deutschland der Löwenanteil für Transferausgaben draufgeht, etwa für Renten, fließt in Schweden anteilsmäßig viel mehr in Dienstleistungen, etwa in Kindergärten und Pflegedienste. Es ist leicht zu verstehen, wie das Arbeitnehmer entlasten kann. Sie kommen in Schweden offenkundig seltener als in Deutschland in die Lage, dass ihnen eine Krankmeldung nötig und angemessen erscheint, damit sie sich beispielsweise um Kinder und Angehörige kümmern können, anstatt ihrer bezahlten Arbeit nachzugehen.
Womöglich ist das Kranksein in Deutschland auch insgesamt angenehmer als in Schweden. So komfortabel wie im „Berghof“, dem Sanatorium aus dem vor hundert Jahren erschienenen „Zauberberg“ von Thomas Mann, geht es für die meisten unbestritten weder hier noch dort zu.
Es gibt hierzulande, gemessen an der Einwohnerzahl, aber viel mehr Krankenhausbetten und auch mehr Ärzte sowie Pflegekräfte als in Schweden. Ein Durchschnittsdeutscher geht nach Daten der Industrieländerorganisation OECD knapp zehnmal im Jahr zum Arzt, ein Durchschnittsschwede bloß zweimal. Zur nächsten Klinik ist es auf dem Land in Schweden oft so weit, dass in Geburtsvorbereitungskursen standardmäßig für eine Niederkunft während der Fahrt zum Kreißsaal geübt wird. Die Schweden leben unter diesen Bedingungen im Durchschnitt übrigens zweieinhalb Jahre länger als die Deutschen.
Bullerbü als Schimäre
Apropos Langlebigkeit. Fürs Altenteil sorgen die Schweden mit einem ausgefuchsten Rentensystem vor. Ein Teil ihrer Beiträge wird seit dem Jahr 2000 obligatorisch am Kapitalmarkt angelegt. Sie können sich dafür aus einer Liste von privaten Fonds, die zuvor einen behördlichen Qualitätscheck bestanden haben, ihre Favoriten aussuchen. Oder sie überlassen die Anlage dem sogenannten „Sofa-Fonds“ in staatlicher Regie, der breit gestreut und risikoarm investiert. Damit kam im ersten Halbjahr eine Rendite von 16 Prozent zustande. So geht Aktienrente. Nur in Deutschland will es keiner glauben. Dabei sind die Langzeitwirkungen enorm.
In Schweden wie in Deutschland liegt das durchschnittliche Einkommen jenseits des 65. Geburtstags bei rund 87 Prozent des Durchschnittseinkommens insgesamt. In Deutschland gehen dafür rund 23 Prozent der Staatsausgaben drauf, in Schweden sind es nur 14 Prozent. Damit das so bleibt, ist ein schrittweiser Anstieg des Renteneintrittsalters bis zum Jahr 2069 schon beschlossene Sache. Die Grundrente soll dann nicht wie zurzeit ab 65, sondern erst ab 70 Jahren ausgezahlt werden.
Als „Bullerbü-Syndrom“ hat ein früherer Leiter des Goethe-Instituts in Stockholm die Überzeugung vieler Deutscher beschrieben, dass in Schweden alles schöner, beschaulicher, geruhsamer sei als in ihrer Heimat. Diese Vorstellung war vermutlich schon immer eine Schimäre. Nur in den 1970er-Jahren mag sich die Wirklichkeit ihr in puncto Sozialleistungen einmal kurz angenähert haben. Das war die Zeit des legendären Ministerpräsidenten Olof Palme, der zusammen mit dem deutschen Bundeskanzler Willy Brandt und dem österreichischen Regierungschef Bruno Kreisky ein Triumvirat der Sozialdemokratie in Europa bildete.
Verständigungsprobleme zwischen diesen drei Männern gab es schon deshalb nicht, weil Palme von seiner aus dem Baltikum stammenden Mutter Deutsch gelernt hatte; Kreisky und Brandt wiederum hatten sich vor den Nationalsozialisten nach Skandinavien gerettet und dort Schwedisch beziehungsweise Norwegisch gelernt.
Zur sozialen Absicherung gehört eine Gegenleistung
Vom „Volksheim“ wussten Kreisky und Brandt folglich mehr als die meisten, die heute in Schweden eine kollektive Hängematte vermuten oder zumindest einen besonders üppigen Sozialstaat. Erstens war den beiden Emigranten bewusst, dass Schweden die Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung viel später als Deutschland eingeführt hatte. Zweitens war ihnen klar, dass zum skandinavischen Verständnis von sozialer Absicherung stets eine Gegenleistung gehört hatte, nämlich individuelle Arbeits- und Leistungsbereitschaft.
In den 1980er- und 1990er-Jahren hat sich mehr oder weniger durch die Bank in allen größeren schwedischen Parteien sowie in den nach wie vor mitgliederstarken Gewerkschaften des Landes eine weitere Überzeugung durchgesetzt: Es ist keine besonders kluge Strategie, einen Strukturwandel aufhalten zu wollen; viel besser ist es, ihn mit eigenen Innovationen zu gestalten.
Als vergleichsweise kleine, offene Volkswirtschaft habe Schweden keine andere Wahl, argumentiert Sven Jochem von der Universität Konstanz. „Das muss Deutschland als größeres Land wohl erst noch lernen“, vermutet er.
Gegenwärtig ist der Unterschied jedenfalls groß. Während bei Volkswagen der Bundeskanzler in der Krise kämpferisch nach sicheren Arbeitsplätzen für die Belegschaft verlangt, steht die schwedische Regierung der spektakulären Schieflage des noch vor Kurzem umjubelten Elektroautobatterie-Start-ups Northvolt weitgehend emotionslos gegenüber.
Sie hat dem Unternehmen auch nur einen verschwindend kleinen Kredit gegeben, ganz anders als die deutsche Förderbank KfW; es gab in Schweden auch nie so etwas wie eine Abwrackprämie zugunsten der traditionsreichen einheimischen Autohersteller Saab und Volvo. Der eine wurde abgewickelt, der andere nach China verkauft. Das wurde bedauert. Und dann traten zukunftsträchtige junge Firmen an ihre Stelle.