Putins Kalkül: Der deutsche Pazifismus ist eine Gefahr für die Ukraine
Wie Putin das Durchhaltevermögen der westlichen Demokratien einschätzt, ist ein wesentlicher Faktor im Krieg des Diktators gegen die Ukraine. Aber die deutsche Politik vernachlässigt bis anhin die Aufgabe, die sich damit verbindet.
Der Krieg um die Ukraine ist zu einer blutigen Geduldsprobe geworden. Weder Russland noch die Ukraine können unter den gegebenen Bedingungen mit einem militärischen Sieg rechnen. Putin muss darauf hoffen, dass der Westen der Auseinandersetzung müde wird und die Ukraine die Unterstützung nicht mehr erhält, die sie braucht, um sich behaupten zu können. Selenski muss darauf hoffen, dass die Verluste, welche die Ukraine Russland zuzufügen vermag, Putin auf die Dauer zu ernsthaften Verhandlungen zwingen. Die besseren Karten in diesem Krieg hat Putin.
Vor diesem Hintergrund gewinnt ein dagegen provinzielles Ereignis wie die im Spätsommer durchgeführten Landtagswahlen in drei ostdeutschen Ländern weltpolitische Bedeutung. Fast jeder zweite Wähler hat für eine der beiden Parteien gestimmt, die mit dem Lockruf Frieden auf Stimmenfang gegangen sind: Die Alternative für Deutschland (AfD) und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) wollen Frieden durch die Einstellung der Waffenlieferungen an die Ukraine herbeiführen. Sie werden mit der Friedensparole auch in den Bundestagswahlkampf 2025 ziehen. Und ob die SPD dann der Versuchung widerstehen kann, sich den Wählern als Friedenspartei zu präsentieren, ist ungewiss.
Verliert die Politik der Unterstützung für die Ukraine in Deutschland ihren Rückhalt bei den Wählern? In Ostdeutschland jedenfalls ist ein kritischer Punkt erreicht. Putin wird es wahrgenommen haben.
Friedenslockruf von AfD und BSW
Dass nun Trump die amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewonnen hat, wird Putin als eine Bestätigung seiner Erwartung wahrnehmen, aus diesem Spiel als Sieger hervorzugehen. Ob Europa den Ausfall der USA in der Unterstützung der Ukraine ausgleichen könnte, ist fraglich. Sollte dann auch Marine Le Pen die französischen Präsidentschaftswahlen 2027 gewinnen – und an der Möglichkeit zweifelt derzeit kaum jemand –, so würde das einen Richtungswechsel in der französischen Politik mit sich bringen und vermutlich erheblichen Einfluss auf die Ukraine-Politik der EU haben. Auch diese mögliche Wendung der Dinge wird in Putins Kalkül eine Rolle spielen.
Kurzum: Wie Putin das Durchhaltevermögen der westlichen Demokratien einschätzt, ist ein wesentlicher Faktor im Krieg des Diktators gegen die Ukraine. Die Wähler haben darauf entscheidenden Einfluss. Aber die deutsche Politik vernachlässigt bis anhin auf erstaunliche Weise die Aufgabe, die sich damit verbindet.
Vordringlich ist die Auseinandersetzung mit dem Pazifismus von AfD und BSW. Der Friedenslockruf der beiden Parteien ist unredlich, weil er seine Verführungskraft entfaltet, indem er die entscheidende Frage offenlässt: Welcher Frieden zu welchem Preis? Redlich ist es, sich illusionslos Rechenschaft über den Preis des Friedens abzulegen oder einzustehen für die eigene Überzeugung, dass der Friede mehr wert sei als der Preis, den er kostet. Unredlich ist es, sich und andere über diesen Preis hinwegzutäuschen oder gar ihn bewusst zu verschleiern.
Die Werbung von AfD und BSW für ein durch Verhandlungen herbeizuführendes Kriegsende in der Ukraine ist ein Musterbeispiel des unredlichen Pazifismus. Denn der Kern dieses Friedensprogramms ist die Forderung, die Unterstützung der Ukraine einzustellen. Das aber ist nichts anderes als der Versuch, die Ukraine zur Selbstpreisgabe zu zwingen. Der Frieden, dem AfD und BSW das Wort reden, ist der Frieden der Kapitulation. Nicht einer Kapitulation von einem Tag auf den anderen. Wahrscheinlich ist ein sich in die Länge ziehender erbitterter Endkampf, der die Ukraine vollends verwüsten würde. Denn die Ukrainer, das haben die zwei Kriegsjahre gezeigt, sind nicht bereit, sich dem Eroberer einfach zu unterwerfen, so aussichtslos die Lage auch sein mag.
Es wird also, überlässt man die Ukraine sich selbst, nicht einmal das Ziel erreicht, mit dem jeder redliche Pazifismus seine Bereitschaft rechtfertigt: das rasche Ende des Sterbens und der Zerstörung. Daran, dass die sich selbst überlassene Ukraine unterliegt, wird dieser Endkampf nichts ändern.
Putin will keinen Kompromiss, sondern den Sieg
Unredlich ist das Friedensgerede von AfD und BSW nicht nur, weil es den Preis des Friedens verschleiert. Unredlich ist es auch, weil es ignoriert, mit wem die Ukraine und mit wem auch der Westen es zu tun hat, eine Ignoranz übrigens, die an die Appeasement-Politik der letzten Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Putin will keinen Kompromiss, er will den Sieg. Er wird den Sieg umso entschlossener wollen, je mehr sich bei ihm der Eindruck verfestigt, dass in den westlichen Demokratien – von deren moralischer Schwäche er ohnehin überzeugt ist – erwähnte Pazifisten die Oberhand gewinnen.
Warum sollte Putin weniger als den Sieg wollen, wenn er sieht, dass er ihm zufallen wird? Schon jetzt fordert er als Vorbedingung einer Teilnahme an Gesprächen die Kapitulation: den vollständigen Rückzug der Ukraine aus den ukrainischen Gebieten, die er für Russland beansprucht, dazu ihren Vorabverzicht auf die Nato-Mitgliedschaft. Das ist die unverblümte Forderung nach Unterwerfung ohne auch nur den Schein einer Gegenleistung. Die Teilnahme an Gesprächen verpflichtet Russland zu nichts, es kann die Gespräche jederzeit abbrechen. Wer Verhandlungen will, die zu einem der Ukraine zumutbaren Kompromiss führen, muss Putin an den Verhandlungstisch zwingen, indem er ihm die Aussicht auf den Sieg nimmt.
Ignorieren, mit wem die Ukraine es zu tun hat – das hat noch eine andere, bedrohlichere Dimension. Der russische Präsident macht aus seinen Plänen für die unterworfene Ukraine kein Geheimnis. Er will ihre Identität auslöschen. Sie soll russisch werden. Ob sich das Ziel erreichen lässt, steht dahin. Aber dass Putin vor keiner Brutalität zurückschrecken wird, daran kann es keinen Zweifel mehr geben. «Unredlich» ist ein sanftes Wort für eine Friedenspropaganda, die diesen Preis für den Unterwerfungsfrieden ausblendet.
Das Spiel mit der Angst
Schliesslich hat Putin jeden Anspruch auf Vertrauen verspielt. Er hat die Lüge zum Prinzip erhoben – noch am Tag vor der Invasion machte er der Welt bekanntlich weis, es handele sich nur um ein Manöver. Verträge hält Putin nicht länger, als er es für zweckmässig ansieht – jenen Vertrag beispielsweise, in dem Russland als Gegenleistung dafür, dass die Ukraine Moskau ihre Atomwaffen überliess, eigentlich die Integrität des Nachbarlandes garantiert hat. Wie umgehen mit einem Gewaltherrscher, der keinerlei Vertrauenswürdigkeit mehr besitzt? Dem unredlichen Pazifismus möchte man die Antwort nicht überlassen.
Die Friedensparolen von AfD und BSW sind töricht. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Wahrscheinlichkeit weiterer imperialistischer Vorstösse Russlands wächst, wenn der Angriff auf die Ukraine Erfolg hat. Es wachsen folglich die Risiken für das östliche Mitteleuropa. Das aber bringt die Nato, Deutschland eingeschlossen, direkt ins Spiel. Diesen Risiken kann man nicht mit Signalen der Schwäche entgegenwirken, sondern nur mit Signalen der Entschlossenheit, dem russischen Grossmachtimperialismus entgegenzutreten.
Dass es für die Politik der Unterstützung der Ukraine Grenzen gibt, versteht sich dabei von selbst. Es gibt ein Risiko der Konflikteskalation, das aus einer Kette von Schritten des Zurückweichens resultiert. Demokratien, die ihre Schwächen kennen, sollten wissen, dass dieses Risiko grösser ist als jenes, mit dem Putins Kriegspropaganda sie zu schrecken versucht. Ein Diktator, der mit seinen Worten und Gesten nach Belieben Kriegsfurcht auslösen kann, so wie er sie im Abschreckungsschach gerade braucht, hat leichtes Spiel.
Unredlich, unvernünftig – und schäbig: Eine Friedenspropaganda, die auf den Instinkt zielt, sich die Probleme anderer vom Halse zu halten, sich lästiger Solidaritätspflichten zu entledigen und anderen den Vortritt zu lassen, sobald es unbequem wird, ist schäbig. Man muss befürchten, dass die Resonanz, welche die Friedenspropaganda von AfD und BSW findet, auch etwas mit diesen Instinkten zu tun hat.
Sehe es exakt ebenso so ! Allerdings kommen dieses unredlichen Rufe nach Unterwerfungsfrieden eben nicht NUR aus den Reihen der AfD und des BSW.. Mützenich, Stegner und wie sie alle heißen können sich direkt einreihen