"Die Protestaktionen an amerikanischen und europäischen Universitäten werden in den Medien gern als propalästinensische Demonstrationen bezeichnet. Das sind sie teilweise: Die Studenten nehmen Partei für die Palästinenser. Es sind aber auch Hassveranstaltungen, bei denen gar nicht so einfach zu erörtern ist, ob der Israel-Hass oder der westliche Selbsthass grösser ist.
Vermutlich ist es einerlei. Israel, Europa und Amerika stehen für den weissen Westen, ein unterdrückerisches, kolonialistisches System. Israel begeht aus Sicht der Demonstranten gerade einen Völkermord an den Palästinensern, und da der amerikanische Präsident ein mehr oder weniger treuer Partner Israels ist, wird er konsequenterweise als «Genocide Joe» beschimpft.
Das ist die Welt der Amerika und Israel hassenden Demonstranten, die wert darauf legen – wenn sie den Medien Auskunft geben – keine Antisemiten zu sein. «Globalize the intifada», «Burn Tel Aviv to the ground», «Go back to Poland», all das soll nicht israelfeindliches oder antijüdisches Ressentiment, sondern lediglich Ausdruck eines tief empfundenen Mitgefühls mit den Palästinensern sein oder aber die verbalen Ausrutscher einzelner Chaoten.
Der Selbstbetrug der Demonstranten
Man könnte viele Worte darauf verwenden, um den Selbstbetrug der Demonstranten zu zertrümmern. Man müsste beim Genozid-Vorwurf beginnen, der eine perfide Umkehr der eigentlichen Ziele der beiden Kriegsparteien – Israel und Hamas – ist. Die Hamas schreibt in ihrer Charta relativ unverhohlen, dass sie Israel vernichten will. Israel wiederum warnt palästinensische Zivilisten vor Angriffen und nimmt mit diesem Vorgehen zusätzliche eigene Opfer in Kauf. Der zentrale Vorwurf an Israel ist also eine groteske Verdrehung der Absichten und angesichts des Holocausts an den Juden eine primitive Provokation.
Um noch ein einigermassen kohärentes Weltbild zu haben, müssen die Demonstranten das Hamas-Massaker vom 7. Oktober komplett ausblenden. Oder aber die Massenhinrichtungen, Massenvergewaltigungen und Massenentführungen von Zivilisten zur legitimen Widerstandsaktion eines unterdrückten Volkes erklären. Beide Strategien kommen zur Anwendung.
Diese Demonstranten sind Moralisten ohne Moral.
«Go Hamas, we love you», konnte man auf dem Campus der Columbia University hören. Diese oft gendernden, queeren, zur Inklusion aufrufenden jungen Menschen scheinen tatsächlich zu glauben, dass eine islamistische Terrororganisation mehr Integrität ausstrahlt als der demokratische Staat Israel. Alles an ihnen ist Ausdruck eines dekadenten, todessehnsüchtigen Westens, der sich in Selbstzweifeln verliert.
Kufiya und Covid-Maske
Konsequenterweise verkleiden sich viele Demonstranten mit einer Kluft, die man als textilen Offenbarungseid interpretieren kann. Sie kombinieren das Arafat-Tuch – auch Kufiya genannt – als Kopftuch, Schulterüberwurf oder Rock mit einer FFP2-Maske. Drückt die Kufiya Solidarität mit den Arabern und eine revolutionäre Militanz aus, dient die Covid-Maske als Gesichtsschutz. Darüber hinaus zeichnet sie ihre Träger als sensibel und achtsam aus – ultraprogressive New Yorker haben ihre FFP2-Maske seit Ausbruch der Pandemie nicht mehr abgelegt. Sie frönen damit einer Zeit, die wie keine andere seit dem Zweiten Weltkrieg für die Einschränkung der individuellen Freiheit steht. Die Pandemie ist überwunden, aber diese Leute bleiben im Krisenmodus.
Die Maske und das Palästinensertuch stehen zusammen für eine militante Selbstrepression, und das passt ganz gut zu einer Bewegung, die den Westen hasst und Islamisten verherrlicht. Selten stand eine Protestbewegung der Freiheit so fern.
Die Verkleidung und die seltsamen Rituale der Studenten sind auch Zeugnis theatralischer Anwandlungen. «Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein», hat Tocotronic in den neunziger Jahren gesungen. Eine solche zu begründen, ist der Wunsch jeder Generation, und das Vietnam dieser Generation soll also das von Hamas-Islamisten betreute Gaza sein.
Politiker, Intellektuelle und Islamisten helfen
Die Protestierenden handeln nicht isoliert, sie werden protegiert von linken Politikern, Intellektuellen und Islamisten. Auf dem Campus der Columbia University mischen die islamistische Organisation Students for Justice in Palestine (SJP) sowie die antizionistischen Vereinigungen Jewish Voice for Peace (JVP) und Within Our Lifetime (WOL) mit. Demokratische Abgeordnete – Alexandria Ocasio-Cortez, Jamaal Bowman und Ilhan Omar – haben den Campus besucht und ihre Solidarität mit den Demonstranten ausgedrückt. Weltweit solidarisieren sich Professoren mit den Protesten.
Verwundern kann dies nicht, wenn man bedenkt, wie sich die ehemalige Harvard-Präsidentin Claudine Gay bei einer Anhörung vor dem amerikanischen Kongress weigerte, einen «Aufruf zum Völkermord an Juden» klar zu verurteilen. Es hänge vom Kontext ab.
Die «New York Times» hat auf dem Campus der Columbia University auch Lisa Fithian ausgemacht, eine 63-jährige Veteranin der linken amerikanischen Demo-Szene, die gern auch als «protest consultant» bezeichnet wird. An der Columbia University handelte sie angeblich spontan und unentgeltlich. Ein Video zeigt, wie sie mit zwei Männern spricht, die die Demonstranten daran zu hindern versuchen, in die Uni einzubrechen. «Das ist lächerlich», sagt die Protestberaterin. «Wir versuchen einen Völkermord in Gaza zu beenden.»
Bitte keine Bagels
Kaum war der Campus der Columbia University von den Demonstranten eingenommen, haben diese Regeln aufgestellt. Kein Alkohol – das Kalifat lässt grüssen. Wer fotografieren will, muss erst fragen. Mit «Zionisten», Menschen, die das Existenzrecht von Israel gut finden, soll nicht geredet werden. Ist das der neue Pluralismus? Ausserdem muss man anerkennen, dass man sich auf kolonialisiertem Land befindet, das eigentlich dem Stamm der Lenape-Indianer gehört.
Eine tragische Komik birgt die Bedarfsliste der «Antiisrael-Demonstranten» (Selbstbezeichnung) der University of California. Helfen kann man unter anderem mit der Lieferung von Gasmasken, Skaterhelmen, Schutzschildern, Holz für Barrieren, Knie- und Ellenbogenschonern sowie veganem und glutenfreiem Essen. Ausdrücklich fordern die Demonstranten, sie nicht mit Bananen, Nüssen, Kaffee und Bagels zu behelligen. Was ist das Problem mit Bagels? Man kann nur vermuten. Das Gebäck wird erstmals in einer Verordnung der jüdischen Gemeinde von Krakau Anfang des 17. Jahrhunderts erwähnt. Könnte also zu jüdisch sein. Wichtig ist den Demonstranten ausserdem, dass die Spenden «BDS-konform» sind. BDS ist die Abkürzung für «Boycott, Divestment and Sanctions», eine Organisation, die die wirtschaftliche Isolation Israels anstrebt.
Videos von der Columbia University zeigen Studenten beim islamischen Gebet. In manchen Social-Media-Kommentaren hiess es, es handle sich um ein Ritual der Konvertierung. Dabei scheint es sich um Fake News zu handeln. Allerdings würde es auch nicht verwundern, wenn amerikanische Studenten von der Möglichkeit einer Konversion Gebrauch machen würden, wenn sie denn angeboten würde.
Die wichtige Diskussion läuft an einem anderen Ort
Demokratien schützen das Recht auf friedlichen Protest. Auch dies gehört zur Ironie dieser Aktionen. Es sind ebenjene Gesellschaften, die die Protestierenden verachten, die ihre Demonstrationen dulden und schützen, solange sie friedlich sind. Während die von ihnen verklärten Kulturen im Allgemeinen der freien Meinungsäusserung und Entfaltung deutlich skeptischer oder repressiver entgegenstehen.
Die Frage nach der Verhältnismässigkeit des israelischen Gegenangriffs nach dem 7. Oktober ist angesichts von Zehntausenden toten Palästinensern mehr als legitim. In Israel selbst wird um diese Frage gestritten. Mit ihrer einseitigen Parteinahme für die Terroristen leisten die meisten Demonstranten dazu aber keinen nennenswerten Beitrag.
Ihr seid schuld – wir sind schuld
Was wird von diesen Protesten bleiben? Werden sie die Republikaner (und damit Donald Trump) ins Präsidentenamt befördern wie damals 1968 unter dem Eindruck der Anti-Vietnamkrieg-Demos? Wie nachhaltig ist das Denken der Studenten, der künftigen westlichen Elite?
Zu befürchten ist, dass sich hier ein grösseres und längerfristiges Problem akzentuiert.
1968 war die amerikanische Gesellschaft eine andere, 87 Prozent hatten europäische Wurzeln. Die zahlreichen Muslime, die in den Westen eingewandert sind, verändern die Diskussionen. Wie sich bei den Uni-Protesten zeigt, verbinden sich plötzlich Interessen von woken Linken und Islamisten, Feministinnen kämpfen für misogyne Organisationen wie die Hamas. Die linken Aktivisten sprechen auf den Islamismus deshalb so gut an, weil er neben seinem Dominanzanspruch auch noch eine ausgeprägte Opferkultur zu bieten hat. Der Westen ist schuld, sagen die Islamisten. Wir sind schuld, echoen die linken Demonstranten. Das passt perfekt.
Diese Koalition ist besonders gefährlich, weil die Widerstandskräfte gegen Islamismus und Wokeismus im Westen verhältnismässig gering sind. Dafür sorgt eine Politik, die sich immer stärker auf Minderheiten ausrichtet und bei Kritik an muslimischem Fundamentalismus schnell Diskriminierung und Rassismus wittert.
Die Abwehrkräfte konzentrieren sich auf den Rechtsextremismus und den Rechtspopulismus, so will es das politische Establishment und das Gros der Medien. Die Akzeptanz von radikalen Kalifatspropagandisten und linken Israel-Hassern ist erheblich grösser. Deshalb schlummert in diesen Protesten ein grösseres Problem: die Selbstzersetzung des Westens. Und deshalb kann man den Ideen dieser Azubi-Elite und ihren Förderern nur entschieden entgegentreten."