"Das Geld für die Aufrüstung mag nun da sein, doch die Probleme der Bundeswehr sind ganz andere
Deutschland hat die Schuldenbremse für die Verteidigung faktisch abgeschafft. Doch solange die Feinstaubwerte von Panzern gemessen werden und Soldaten auf der Strasse der Stinkefinger gezeigt wird, bleibt die Armee ein Sorgenkind.
«Whatever it takes», kündigte der zukünftige deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz an – was auch immer es kosten mag, das müsse von nun an für die deutsche Verteidigung gelten. Man muss kurz innehalten, um zu verstehen, was hier in Deutschland gerade passiert. Vor nicht einmal fünf Monaten zerbrach die Ampelregierung. Damals zerstritt sich die Koalition über einen Bruchteil der heutigen Summen. All das scheint plötzlich weit weg.
Jetzt rauscht ein Finanz-Tsunami vor allem auf eine Institution zu: die Bundeswehr. Erst gab es den Extraschuldentopf von 100 Milliarden Euro und die Steigerung des Verteidigungshaushalts. Diese Woche schafften Bundestag und Bundesrat faktisch die Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben ab.
In Deutschland scheint die Idee hinter den Milliarden zu sein, man müsse jetzt einfach nur genug Geld ausgeben, dann werde die Bundeswehr nächste Woche perfekt ausgestattet sein. Doch so simpel der Gedanke, so kompliziert ist die Wirklichkeit.
«Wir haben keine Streitkräfte, die verteidigungsfähig sind»
Die Bundeswehr ist eine Institution, die seit Jahren notorische Mangelwirtschaft durchlebt. Es fehlt an Personal und an Material. Die vorhandene Infrastruktur ist vielerorts marode oder längst reif für die Mottenkiste – wie der Kampfjet Tornado. 93 Maschinen sind derzeit im Bestand des deutschen Militärs. Die Bundeswehr selbst schreibt über ihren Kampfjet: «Der Tornado galt in den 1980er Jahren als einer der technologisch am höchsten entwickelten Jets.» Wir befinden uns aber im Jahr 2025.
Um sich über den Zustand der Bundeswehr im Klaren zu werden, hört man am besten dem obersten Dienstherrn zu. Verteidigungsminister Boris Pistorius sagte im März 2023: «Wir haben keine Streitkräfte, die verteidigungsfähig sind.» Der Vorsitzende des Deutschen Bundeswehrverbandes, Oberst André Wüstner, antwortete damals, dass die Truppe solch eine Klarheit seit vielen Jahren nicht mehr erlebt habe. «Es ist beeindruckend, wie ehrlich und wahrhaftig der Verteidigungsminister die Lage in der Bundeswehr beschreibt.» Seit Jahren nicht verteidigungsfähig – und jeder weiss es.
Das beginnt schon beim Material. «Mit Blick auf die aktuelle Weltlage brauchen wir zuallererst die Fähigkeiten, die bisher die USA beisteuern, um uns verteidigungsfähig zu machen», sagt Hendrik Remmel, Militäranalyst am German Institute for Defence and Strategic Studies, der «NZZ am Sonntag». In strategisch wichtigen Bereichen seien das bis zu 80 Prozent. Und die Trump-Administration hat jüngst mehr als deutlich gemacht, dass damit sehr bald Schluss sein dürfte. Remmel nennt als Schwachpunkte der deutschen Verteidigung: strategische Kommunikation und Aufklärung, weitreichende Präzisionswaffen und Luftverteidigung.
Die Fähigkeit, ein strategisches Lagebild zu erstellen, wird in Fachkreisen C4ISR genannt (Command, Control, Communications, Computers, Intelligence, Surveillance, Reconnaissance). Es geht um Überwachung, Aufklärung und Kommunikation. «Als die USA diese Informationen der Ukraine drei Tage lang vorenthielten, hatten Kiews Truppen an der Front kein klares Lagebild», erklärt Remmel. Sie waren quasi blind und taub.
Beim zweiten Punkt geht es um sogenannte Deep Precision Strikes, also die Fähigkeit, Präzisionsschläge hinter der eigentlichen Frontlinie durchzuführen. Gebraucht werden hierfür ballistische Raketen wie die amerikanischen ATACMS, Marschflugkörper wie der britische Storm Shadows oder der deutsche Taurus. «Davon brauchen wir viel mehr. Denn ganz vorne an der Frontlinie hat die beste Brigade der Welt keine Chance, wenn dahinter Führung und Nachschub ausfallen.»
Und zu guter Letzt müsse dringend die deutsche Luftverteidigung verstärkt werden. Der Politikwissenschafter und Militärexperte Carlo Masala skizzierte im ZDF die Lage folgendermassen: Deutschland verfüge zurzeit über acht Flugabwehrsysteme von Typ Patriot. «Wenn Sie diese gut positionieren, sind Sie in der Lage, Berlin zu schützen. Keine andere deutsche Stadt.»
Resigniertes Kopfschütteln für deutsche Bürokratie
Für dieses Material braucht es auf jeden Fall viel Geld. Aber bei der Bundeswehr kommt eine weitere – womöglich viel grössere – Hürde hinzu: die deutsche Bürokratie. Kommt es in Gesprächen mit Bundeswehrangehörigen und Militärexperten zu diesem Aspekt, variieren die Reaktionen zwischen resigniertem Kopfschütteln und fatalistischem Lachen. Aberwitzige Anekdoten werden zum Besten gegeben.
Denn während fast alle Länder für ihr militärisches Gerät schnell und unkompliziert Sonderzulassungen erteilen, müssen in Deutschland Kampfjets und Panzer dieselben Vorschriften erfüllen wie Fahrräder und Autos. Das heisst: Bei deutschen Panzern wird der Feinstaubwert gemessen und über schwangerschaftstaugliche Sitze diskutiert. «Ein anderes Beispiel: Wenn der Blinker kaputt ist, darf der Panzer nicht raus auf den Übungsplatz», erzählt Remmel aus eigener Erfahrung.
Ein anderes Beispiel sind Drohnen. Die Ukraine zeigt derzeit, wie wichtig diese flexiblen und kostengünstigen Waffen sind. Deutschland wollte sich einst unter dem Titel «Euro Hawk» damit ausrüsten. Im Oktober 2003 wurde der erste Prototyp in einem zwanzigstündigen Flug aus den USA nach Deutschland übergeführt. Ohne Probleme. Doch diese begannen mit den deutschen Vorschriften, als die Behörden bemängelten, dass die amerikanische Drohne kein Antikollisionssystem und keine Enteisungsanlage habe. Als zehn Jahre später die Euro Hawk immer noch keine Zulassung hatte, stoppte der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière das Projekt. Das Fiasko kostete 700 Millionen Euro.
Entsprechend fordern Rüstungskonzerne, Experten und Militärs unisono Entbürokratisierung, eine grundlegende Reform des Beschaffungswesens oder zumindest weitgehende Sonderzulassungen.
Und so braucht es neben viel Geld für Hardware mindestens eine ebenso grosse Portion an politischer Durchsetzungskraft, um das wilde Gestrüpp aus Bürokratie und Beschaffungswesen zurechtzustutzen. Beides scheint derzeit vorhanden zu sein – und doch wird beides wohl nicht ausreichen.
Stinkefinger für Soldaten in Deutschland
Der Militärexperte Remmel sieht «die grösste strategische Herausforderung für die Bundeswehr» ganz woanders: «Wir brauchen Personal!» Denn: «Sie können uns gerne 10 000 Kampfpanzer auf den Hof stellen, das bringt gar nichts, wenn wir nicht das geeignete Personal haben, um diese Waffensysteme zu bedienen.» Durch mehr Geld werde dieses Problem aber nicht gelöst. Die Bundeswehr zahle durchaus gute Gehälter und biete zusätzlich viele Vorzüge wie Weiterbildung, Spezialisierung und Versorgung. Dennoch steigt die Zahl der Anträge auf Kriegsdienstverweigerung kontinuierlich an. Von 2023 auf 2024 hat sie sich sogar mehr als verdoppelt.
Seit die Wehrpflicht 2011 ausgesetzt wurde, treten immer weniger Leute den Wehrdienst an. Zurzeit sind es rund 182 000 aktive Soldaten und Soldatinnen. Schon das Vorhaben, die Zahl auf 203 000 zu erhöhen, war ambitioniert. Und diese Grenze war noch gar nicht auf eine Landes- und Bündnisverteidigung ausgelegt. Dafür braucht es wesentlich mehr Personal: statt der bestehenden acht Brigaden schätzungsweise fünfzehn – also fast doppelt so viele.
Es ist wenig verwunderlich, dass kaum noch Deutsche zur Bundeswehr wollen. Politik und Medien haben selbst jahrelang dazu beigetragen, dass Deutschlands Militär in einer Art Schmuddelecke steht.
Das schwere Erbe der deutschen Geschichte hat zu einer Gegenreaktion in der Gesellschaft geführt. Alles Militärische gilt als verpönt. Soldaten bekommen das im Alltag am eigenen Leib zu spüren. Ein Oberst der deutschen Luftwaffe wundert sich jedes Mal, wenn er im Ausland ist. «In den USA werden die Militärs gegrüsst», erzählt er im Gespräch. «Selbst mir ruft man auf der Strasse ein anerkennendes ‹Thank you for your service› zu.» In Deutschland müsse man froh sein, wenn man nicht den Stinkefinger gezeigt bekomme.
Hinzu kommt die Politik. Wann immer gespart wurde, geriet die Bundeswehr als Erstes in den Fokus. Alles unter dem Motto der sogenannten Friedensdividende. Noch vor zwei Monaten erklärte der Inspekteur der Marine, Jan Christian Kaack: «Die politische Linie lautet doch: Wir befinden uns im tieeefsten Frieden.» Das «tief» zog der Vizeadmiral dabei ironisch in die Länge. Denn Kaack und seine Leute wissen: Die Realität sieht anders aus.
Erneute Wehrpflicht`?
CDU/CSU liebäugeln deshalb mit einer Rückkehr zur alten Wehrpflicht. Doch das wäre schwierig. Rechtlich müsste man klären, wie man es mit Frauen und diversen Menschen hält. Zudem fehlt inzwischen schlicht die nötige Infrastruktur: Rekrutierungszentren, Ausbilder, Unterkünfte.
Verteidigungsminister Pistorius hat mit einer Art Freiwilligendienst einen ersten Schritt getan. Alle jungen Bürger sollen zum 18. Geburtstag angeschrieben werden und einen Fragebogen zur körperlichen Fitness und zu ihrer Haltung zum Wehrdienst ausfüllen. Wer sich verpflichten lässt, soll einen kostenlosen Führerschein erhalten.
Der Militärexperte Remmel glaubt nicht, dass man dieses Problem mit etwas mehr Gehalt und einer schmissigen Werbekampagne lösen kann. «Es braucht einen generellen Mentalitätswechsel, und zwar in der Gesellschaft wie auch in der Bundeswehr selbst.» Die deutsche Bevölkerung müsse sich wieder überlegen, was man wolle: «Wollen wir in Frieden leben oder auch in Freiheit? Und falls hoffentlich Zweites gilt: Was sind wir bereit, dafür zu geben? Was ist uns unsere Freiheit wert?»
Und so wird schnell klar: Um Deutschland tatsächlich für den Ernstfall vorzubereiten und verteidigungsfähig zu machen, bedarf es weit mehr als Geld. Selbst Hunderte Milliarden Euro reichen dafür nicht aus. Das Schuldenmachen war nur ein erster Schritt. Vielleicht sogar der einfachste.
Der Artikel spricht mir aus der Seele, das wird ein langer langer Weg der mehr als nur Unsummen an Geld benötigt