"Neun Monate Offensive im Donbass: Russland zahlt für kleine Gebietsgewinne einen so hohen Preis wie nie zuvor
Moskaus Armee verzeichnet täglich 250 Tote, rückt aber vor und bringt die Ukrainer in eine zunehmend prekäre Lage. Die grösste Gefahr für die Verteidiger lauert aber nicht auf dem Schlachtfeld.
In den letzten Wochen haben die Meldungen über russische Eroberungen nach einer stabileren Phase wieder zugenommen. Stolz listet Moskau alle Dörfer auf, die seine Truppen einnehmen: Sie heissen Wowtsche, Jewheniwka, Pischtschane oder Prohres. Die meisten sind menschenleere Ruinenlandschaften ohne strategische Bedeutung. Doch der Kreml opfert selbst den kleinsten Erfolgen Hunderte von Soldaten. So erzeugt Putin den Eindruck, Russlands Vorrücken sei unaufhaltbar.
Diese Kriegstaktik bringt die Ukrainer in eine prekäre Position. Sie dürfen sich keine Fehler erlauben, weil der überlegene Feind ständig nach Schwachstellen sucht. So waren Russlands letzte Vorstösse laut ukrainischen Kennern auch wegen mangelnder Koordination unter den Verteidigern erfolgreich: Bei Torezk misslang eine Truppenrotation, in Prohres kam es zu einem Missverständnis zweier nebeneinanderstehenden Brigaden. Das schlägt auf die Motivation und die Moral, es kostet Territorium und Menschenleben.
900 Quadratkilometer in neun Monaten erobert
Wer allerdings das Schlachtfeld aus etwas grösserer Distanz betrachtet, muss zu dem Schluss kommen, dass Moskau trotz gigantischem Verschleiss an Material und Truppen bisher wenig erreicht hat. Der junge französische Analyst Clément Molin machte sich Mitte Juli die Mühe, die Resultate der seit neun Monaten anhaltenden Offensive im Donbass zusammenzufassen: Deren wichtigstes Resultat ist der Fall der stark befestigten Stadt Awdijiwka. Dazu kommen vier Dutzend Dörfer.
Gelände gewannen die Russen vor allem westlich von Awdijiwka, wo sie weiterhin vorrücken. Gesamthaft haben sie knapp 900 Quadratkilometer erobert. Das klingt nach viel, entspricht aber nur 0,15 Prozent der ukrainischen Staatsfläche. Der britische Armeechef sagte diese Woche, die Russen brauchten bei diesem Tempo fünf Jahre, um die vier teilweise besetzten ukrainischen Regionen zu erobern.
Dies setzte aber voraus, dass Moskau weiterhin die dafür notwendigen Ressourcen aufbringt. Die Streitkräfte können zwar ihre Verluste einigermassen ersetzen, doch diese sind kolossal. Nicht nur westliche Geheimdienste, sondern auch russische Medien sprechen von der verlustreichsten Phase des Krieges: So hat das Portal Medusa Anfang Juli auf Grundlage von Daten aus Sterberegistern und von Nachrufen die Zahl von 120 000 Getöteten eruiert. Täglich kämen 200 bis 250 dazu. Zusammen mit Verwundeten ergeben sich daraus Verluste von einer halben Million Mann seit Beginn der Invasion.
Gelang es den Russen letztes Jahr noch recht gut, neue Soldaten zu rekrutieren, so müssen die Streitkräfte nun tief in die Tasche greifen. Die Stadt Moskau bietet Freiwilligen während des ersten Jahres in der Armee neu umgerechnet fast 75 000 Franken an Sold und Boni. Trotzdem ist die Zahl der Freiwilligen stark gesunken. Sie wissen, dass viele schnurstracks in die Sturmangriffe geschickt werden.
Die Einheiten verfügen auch nicht über genügend Fahrzeuge. Die Produktion neuer Panzer und Mannschaftswagen kann den Bedarf nicht annähernd decken. Deshalb frisst sich die Armee durch ihre jahrzehntealten Sowjetbestände, die für Ersatzteile ausgeschlachtet werden. Die konservativ kalkulierende Analyseplattform Warspotting zählte in den letzten neun Monaten 4000 zerstörte Fahrzeuge, 1114 davon allein im Frontabschnitt von Pokrowsk. Bei den Ukrainern entsprechen die Ausfälle fast einem Zehntel davon.
Russland hat viel mehr Material als die Ukraine
Wie die Verluste zustande kommen, zeigte am Donnerstag ein verstörendes Video: Eine russische Kolonne aus 57 Panzerfahrzeugen griff in der Nähe der belagerten Stadt Wuhledar ganz im Südosten an. Mit Drohnen und Artillerie vernichteten die Verteidiger in kurzer Zeit 13 Fahrzeuge, bevor sich die Russen zurückzogen. Solche gescheiterten Attacken gab es in den letzten Monaten dutzendfach.
Allerdings sind solche Videos nicht nur ein Zeichen der Stärke der Ukrainer. Zum einen weisen Militärexperten darauf hin, dass Teile solcher Kolonnen regelmässig ihre Ziele erreichen. Zum anderen sind kaum je ukrainische Panzerfahrzeuge zu sehen – schlicht deshalb, weil die Verteidiger viel zu wenig davon haben. So können sie keine Gegenangriffe starten, es fehlt an Feuerunterstützung und Transportmöglichkeiten. Mit den sogenannten FPV-Drohnen können die Ukrainer nur einen Teil dieses Nachteils wettmachen.
Der Mangel an Fahrzeugen, Waffen und Soldaten zieht sich praktisch durch die gesamte ukrainische Front im Osten. Die Mobilisierung und Ausbildung neuer Truppen verläuft weiterhin stockend, und die neuen Waffenlieferungen aus den USA kommen nur langsam in die exponiertesten Sektoren. Die Störung der Logistikketten gehört zu den Prioritäten beider Kriegsparteien.
Die Ukrainer setzen dabei vor allem auf Drohnen und ihr begrenztes Reservoir an Himars- und Atacms-Raketen. Auch wenn Kiew regelmässig spektakuläre Schläge gelingen, ist die Zerstörungskraft von Russlands Luftwaffe deutlich grösser. Hinter der Front feuern die Kampfjets schwere Gleitbomben und Raketen ab. Diese zertrümmern ganze Stellungen und richten grosse Schäden an der zivilen Infrastruktur an. Und weil die Verteidiger an der Front zu wenig Mittel zur Flugabwehr haben, greifen die Jets auch direkt in die Kämpfe ein. Der ukrainische Armeechef Olexander Sirski sagte jüngst, die bald eintreffenden F-16-Jets würden dieses Problem lindern, seien aber kein Wundermittel.
Moskaus Angriffe gehen weiter
Selbst wenn die Lage der Ukrainer heute weniger verzweifelt scheint als im Frühling, ist ungewiss, ob Moskaus Offensive bereits kulminiert hat. So beobachtete die Gruppe Frontelligence Insight im Juni und Juli mehrere hundert Panzerfahrzeuge, die aus Russland in Frontnähe transportiert wurden. Sie seien bisher nicht auf dem Schlachtfeld aufgetaucht. Auch rechnet Sirski mit einer weiteren Vergrösserung der russischen Truppen von 520 000 auf 690 000 Mann bis Ende Jahr.
Die Angriffe dürften deshalb weitergehen, zumal die Ukrainer kurz- bis mittelfristig nicht in der Lage sind, Gegenoffensiven auszulösen. Der russische Militärexperte Kirill Michailow konstatiert eine «opportunistische Strategie» Moskaus, über die versucht wird, kleinere Durchbrüche durch die Verlegung von Reserven auszuweiten und so der Eroberung des gesamten Donbass näher zu kommen. Da viele ukrainische Einheiten erschöpft sowie personell unterbesetzt sind und die Verteidigungslinien von unterschiedlicher Stärke sind, zeigt diese Strategie einige Erfolge.
Besonders im Abschnitt von Pokrowsk sind den Russen bedrohliche Vorstösse gelungen. Sie sind dort bis auf fünf Kilometer an eine bedeutende Verbindungsstrasse zwischen den Donbass-Zentren Pokrowsk und Kramatorsk herangerückt. Erreichen sie diese, könnten sie die Versorgung wichtiger Teile der Front, darunter Tschasiw Jar, erheblich erschweren bis verunmöglichen. Auch ganz im Südosten, wo die Stadt Krasnohoriwka wohl kurz vor dem Fall steht, könnte die Ukraine mittelfristig zu Rückzügen gezwungen werden.
All dies ist aber nicht mit einem chaotischen Kollaps der ukrainischen Front zu verwechseln. Einen solchen halten Experten für sehr unwahrscheinlich. Zudem ist völlig unklar, wie die Russen die wichtigsten Donbass-Zentren mit den verfügbaren Kräften einnehmen wollen. Die grösste Gefahr für die Fähigkeit der Ukraine, sich weiterhin zu verteidigen, lauert anderswo: in der Kriegsmüdigkeit der eigenen Bevölkerung und vor allem der westlichen Partner. Sie fordern immer lauter ein Ende dieses Konfliktes. Das macht die ausländische Unterstützung, von der die Ukraine mehr denn je abhängt, zunehmend unberechenbar. Dies gilt umso mehr, falls Donald Trump im November die amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewinnt."