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DER ANDERE BLICK
Deutschland gehört schon jetzt zu den Verlierern des Ukraine-Kriegs
Die Bundesrepublik ist militärisch so verwundbar, dass sie sich jetzt noch abhängiger von Amerika macht. Und in Ostdeutschland steht die fünfte Kolonne Moskaus vor einem Wahlsieg. Wird Deutschland zum Spielball Trumps und Putins?
Die russische Aggression in der Ukraine wird die Machtverhältnisse in Europa für lange Zeit verändern. Und zwar nicht erst, wenn Putin siegen und dem Kontinent seine Bedingungen diktieren sollte. Schon jetzt teilt der Konflikt die Staaten in Gewinner und Verlierer ein.
Zu den Verlierern zählt eindeutig Deutschland. Vor wenigen Jahren war es noch die Führungsmacht in der EU, und seine Kanzlerin wurde vom Magazin «Forbes» zehn Mal hintereinander zur mächtigsten Frau der Welt gekürt. Wer käme heute auf die Idee, Olaf Scholz unter die mächtigsten Männer der Welt einzureihen?
Deutschland büsst jetzt für Fehlentscheidungen in der Vergangenheit – vor allem in der Sicherheitspolitik. Ein gutes Beispiel hierfür sind die Mittelstreckenwaffen. Diese Projektile mit einer Reichweite von 500 bis 5000 Kilometern und der Fähigkeit, gegnerische Ziele weit hinter der Front zu bekämpfen, sind ein zentrales Element der modernen Kriegführung.
So klinken russische Jets in einiger Entfernung vom Ziel Gleitbomben aus. Diese zerstören ukrainische Stellungen und Infrastruktur wie Elektrizitätswerke und Spitäler. Eine Abwehr ist kaum möglich. Umso wichtiger ist es, dass die Ukrainer mit weitreichenden Raketen die Militärflugplätze und Radarstellungen tief im russischen Kernland angreifen können.
Dass Bundeskanzler Olaf Scholz die USA bitten musste, Mittelstreckenwaffen in Deutschland zu stationieren, ist das Eingeständnis eines Versagens seiner Vorgängerin.
Frankreich und Grossbritannien besitzen wenigstens Atomraketen, um Russland abzuschrecken. Deutschland aber ist schutzlos. Bereits vor einem Jahrzehnt stationierte Moskau Mittelstreckenwaffen in der Region Kaliningrad, mit der es den Ostseeraum und auch die Bundesrepublik ins Visier nimmt.
Die Regierung Merkel reagierte nicht auf die Bedrohung. Sie kritisierte nur Präsident Trumps Entscheidung, den INF-Vertrag zu kündigen, der Mittelstreckenraketen in Europa verbot. Durch Moskaus Aufrüstung war das Abkommen nichtig geworden.
Welche Gefahr das für Westeuropa bedeutet, machte der Überfall auf die Ukraine schlagartig klar. Putin stationiert solche Waffen nicht nur, er setzt sie auch ein.
Im Osten ist die fünfte Kolonne Moskaus stark
Deutschland ist jetzt noch mehr auf amerikanischen Schutz angewiesen. Der hat einen hohen Preis in einer Zeit, in der Donald Trump vielleicht wieder ins Weisse Haus einzieht. Das Szenario liegt nahe, dass ein Präsident Trump im Gegenzug für die Stationierung verlangt, Berlin müsse erheblich mehr als zwei Prozent seiner Wirtschaftskraft für Verteidigung aufwenden.
Gegenwärtig heisst es in Berlin offiziell, die amerikanischen Raketen und Marschflugkörper sollten stationiert werden, bis Deutschland vergleichbare Waffen entwickelt habe. Trump, der Blackmailer-in-Chief, könnte den Zeitplan obsolet machen.
Oder Trump verlangt, dass Berlin als Gegenleistung für den ausgebauten militärischen Schutz seine Chinapolitik mit ihren Sanktionen und Zöllen ohne Abstriche übernimmt. Für die deutsche Exportindustrie wäre das ein Desaster.
Das Wehklagen über den Republikaner ist scheinheilig, weil Deutschland die Galgenfrist seit dessen Amtsantritt 2016 nicht genutzt hat, um die Abhängigkeit von Amerika zu reduzieren. Stattdessen wurde Berlin noch erpressbarer. Von den grossen Ländern in Europa ist keines so verletzlich wie Deutschland. Wird es zum Spielball Trumps – und Putins? Das Powerplay der grossen Mächte nimmt zu, und Deutschland ist denkbar schlecht dafür gerüstet.
Sicherheit definiert sich nicht nur militärisch. Deshalb gilt die Polarisierung in den USA als veritables Sicherheitsrisiko. Die Bundesrepublik ist nicht minder polarisiert, wenngleich auf andere Weise als Amerika. Kein anderes europäisches Land zerfällt in zwei derart scharf abgegrenzte Regionen wie Deutschland mit seinem Ost- und seinem Westteil.
Kulturell und politisch gehen die Landesteile unterschiedliche Wege. Der Krieg vertieft den Graben noch, da Ostdeutsche und Westdeutsche Russland und die Nato völlig anders beurteilen. Moskau beutet die Spaltung mit seiner Propaganda aus – unter Beihilfe von AfD und Sahra Wagenknecht. Die beiden Parteien bilden die fünfte Kolonne Putins.
Während des Kalten Kriegs finanzierte die DDR die kommunistische Splitterpartei DKP, Teile der Friedensbewegung und etliche Verlage. Doch das blieb eine Randerscheinung. Breitenwirkung erreichten die Helfershelfer Ostberlins und Moskaus nicht, obwohl sich selbst westliche Qualitätsmedien nicht scheuten, von der Stasi kolportierte Informationen abzudrucken.
AfD und Wagenknecht erzielen im Osten gemäss Umfragen bis zu 50 Prozent der Stimmen. Heute ist die fünfte Kolonne so schlagkräftig wie noch nie. Nato und EU tun gut daran, diese Kräfteverhältnisse bei der Beurteilung der deutschen Zuverlässigkeit einzubeziehen.
Die geopolitische Widerstandskraft eines Landes hängt wesentlich von seiner Energieversorgung ab. Die Ampelkoalition meisterte die akute Notsituation nach Kriegsausbruch gut, als sie rasch Alternativen zum russischen Gas fand.
Zugleich verstärkte die Regierung die Verwundbarkeit noch, indem sie die letzten drei Atomkraftwerke abschaltete. Der ideologische Charakter der Energiepolitik ist ein weiteres Sicherheitsrisiko.
Als Schäuble noch drohen konnte, Griechenland aus der Euro-Zone zu werfen
Zu der Ideologie gehört auch der rasche Ausstieg aus der Verbrennungstechnologie. Was das heisst, lässt die Ankündigung des Automobilzulieferers ZF Friedrichshafen erahnen, maximal ein Viertel der Arbeitsplätze in Deutschland abzubauen, in Summe bis zu 14 000 Stellen.
Wenn die EU Diesel- und Benzinmotoren ab 2035 in Neufahrzeugen verbietet, verliert die wichtigste Branche des Landes ihren grössten Wettbewerbsvorteil. Vorsprung durch Technik. Im nachfossilen Zeitalter gilt das für Deutschland nicht mehr.
Der grüne Traum von einer radikal CO2-freien Zukunft gefährdet den Wohlstand. Die Auswirkungen sind nicht nur im Portemonnaie spürbar, und das gilt besonders in Kriegszeiten. Mangels funktionstüchtiger Streitkräfte ist die Wirtschaftskraft die wirkungsvollste Waffe Deutschlands. Berlin erreicht seine aussenpolitischen Ziele mit Geld, wo andere sich aufs Militär verlassen. Checkbuchdiplomatie hiess das früher.
Während der Euro-Krise stand Deutschland im Zenit seiner Macht. Noch nie seit 1945 war Europa so abhängig von den in Berlin getroffenen Entscheidungen wie in den Jahren, in denen Bundesregierung und EZB den Fortbestand des Euro garantierten.
Der Zinssatz der Bundesanleihen war damals das Mass aller Dinge, und Finanzminister Wolfgang Schäuble drohte Griechenland unverhohlen damit, den Stecker zu ziehen.
Heute ist Deutschland militärisch schwach, zwischen Ost und West polarisiert und wirtschaftlich verwundbar wie lange nicht. Zwar ist es in absoluten Zahlen noch der grösste Nettozahler in der EU; auch gibt ausser den USA niemand so viel Geld für die Unterstützung der Ukraine aus. Aber zugleich sieht das Ausland, wie die Position Berlins erodiert.
Im neuen Europa seit Februar 2022 beanspruchen die Osteuropäer und besonders Polen mehr Mitsprache. Die britischen Brexit-Loser werden als zuverlässige Stütze in der Nato wieder wichtiger. Und der deutsch-französische Motor hat seinen Schwung eingebüsst.
Die Maastricht-Kriterien, einst der Stolz von Bonner Finanzministern, sind zur Unkenntlichkeit aufgeweicht. So leistet sich die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni frisches Selbstbewusstsein. Kein Kanzler könnte sie aus dem Amt mobben, wie es Silvio Berlusconi widerfuhr, als Merkel in der Euro-Krise viel zu seinem Sturz beitrug.
Noch immer kann sich Berlin in der EU durchsetzen. Aber das Land ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass es in Brüssel Durchschlagskraft entwickeln würde.
Deutschland ist nicht der kranke Mann Europas, weil der Rest des Kontinents nicht besser dasteht. Aber die deutsche Macht nimmt ab. Oder wie Wolfgang Schäuble sagen würde: «Isch over.»
Lesenswerter Kommentar zum "Ist-Zustand" Deutschlands Mitte 2024