In der ZEIT gibt's nen sehr interessanten Artikel über den chinesischen Markt, passt auch ganz gut zu den Diskussionen zum systemischen Risiko hier. Beleuchtet auch die gesellschaftliche Problematik.
Packe ihn mal hier rein, falls jemand interessiert ist.
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Chinas goldenes Zeitalter neigt sich dem Ende zu
Die Wirtschaft schwächelt, die Immobilienblase platzt, die Aktien fallen: China gleitet in eine Depression. Manche suchen Hoffnung in Nostalgie.
Die TV-Serie Blossoms Shanghai von Regisseur Wong Kar-wai erzählt die Lebensgeschichte eines ehrgeizigen Aktienanlegers im Shanghai der Neunzigerjahre. In nur 26 Tagen hatte sie bereits mehr als eine Milliarde Aufrufe und wurde damit zu einem kulturellen Phänomen. Zwei Monate lang stand die Serie in den trending topics der sozialen Medien ganz oben. Aber nicht nur das: Sie hat das Interesse am alten Shanghai wiederbelebt, von den Lebensmitteln und Restaurants dieser Zeit bis hin zur Mode und Kosmetik. Diese landesweite Nostalgiewelle hat sicher auch mit Wong Kar-wais erzählerischem Können zu tun. Vor allem aber verdankt sie sich der traurigen Einsicht, dass in China ein goldenes Zeitalter an sein Ende gelangt ist.
Heute dagegen scheint Chinas Aktienmarkt in einer unaufhaltsamen Abwärtsspirale gefangen. In diesem Januar kam es zum heftigsten Crash im Monatsvergleich seit 34 Jahren: Gut 23 Prozent haben die Aktien an Wert verloren. Zwischen Ende 2021 und Ende 2023 haben sich rund 67 Prozent der aktiven Aktienfonds in Luft aufgelöst, der Wert der verbleibenden hat sich halbiert. Aktien aus China und Hongkong haben binnen drei Jahren rund 5,8 Billionen Euro an Marktwert verloren. Die Redewendung, die gerade unter den Aktienanlegern kursiert, lautet "von den Verlusten betäubt".
Chinas zuständige Behörden haben zahlreiche Maßnahmen zur Marktunterstützung ergriffen, darunter ein Rettungspaket in Höhe von zwei Billionen Yuan, etwa 258 Milliarden Euro. Die Zentralbank hat den Mindestreservesatz der Banken gesenkt. Aber es wurden nur immer mehr chinesische Aktien abgestoßen, der Schlüsselindex ist auf ein Fünfjahrestief gefallen. Die Bestände der Investmentfonds waren Ende 2023 auf dem niedrigsten Stand der letzten zehn Jahre.
Unübersehbar ist der Optimismus der Neunziger
Der chinesische Aktienmarkt hat seit 1990 viele Auf und Abs erlebt, manche der Abstürze waren bereits brutal. In einigen Episoden von Blossoms Shanghai werden tragische Geschichten von unglücklichen und skrupellosen Investoren erzählt, die nach unerträglichen Verlusten Suizid begehen. Aber in den vergangenen Jahrzehnten hatte sich der Markt stets erholt, sogar nach dem Crash 2008, bei dem der Index von 6.000 auf 1.664 gefallen war. Wird sich das heute wiederholen?
Straßenszene aus Schanghai im Januar 1999 © Zou Qing/AFP/Getty Images
Viele Aktienbesitzer haben da ihre Zweifel, denn die strukturellen Unterschiede zwischen den Neunzigerjahren und heute sind groß. Die bewegendsten Geschichten in Blossoms Shanghai drehen sich nicht um die riskanten Einsätze am Aktienmarkt, sondern um die wagemutigen und hart arbeitenden Unternehmer, die Restaurants eröffnen und Kleiderfabriken hochziehen. Unübersehbar ist der Optimismus, der das Jahrzehnt bestimmte. 1992 gab Deng Xiaoping den Marktreformen noch mal Auftrieb, indem er die konservativen Anführer der Kommunistischen Partei in den Hintergrund drängte. 2001 wurde China Mitglied der WTO und integrierte sich rasch in den prosperierenden Weltmarkt. Internationale Investoren waren zunehmend vom Potenzial Chinas überzeugt und begaben sich in großer Zahl auf Expeditionen in den wilden, wilden Osten.
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Das Wichtigste: Auch die KP, gedemütigt durch das Chaos und die Desaster unter Mao, war bereit, privaten Wohlstand, wenn auch begrenzt, zuzulassen und den lokalen Behörden mehr Freiheiten zu gewähren. Und sie war bereit, die westlichen Kapitalisten willkommen zu heißen.
Heute ist Chinas das größte Fertigungszentrum der Welt, aber es sieht sich mit einem enormen Überschuss an Kapazitäten konfrontiert. Nicht nur, weil die Welt nicht so viel schlucken kann, wie China produziert. Sondern auch, weil die reichen Länder begonnen haben, ihre Versorgungsketten außerhalb Chinas neu aufzubauen. Die Gründe dafür sind zahlreich, zum Beispiel die wachsenden Arbeitskosten in China, die politische Ungewissheit angesichts der Entkopplung zwischen den USA und China oder die geopolitischen Sorgen wegen einer möglichen Invasion in Taiwan. Chinesische Unternehmen sind für westliche Firmen heute eine starke Konkurrenz und nicht mehr billige und bequeme Zulieferer.
Offiziell gibt es immer noch optimistische Stimmen
Innerhalb Chinas hat die weit auseinandergehende Schere zwischen Arm und Reich eine Generation junger Leute desillusioniert. Sie glauben nicht mehr daran, dass harte Arbeit eine erfolgreiche Zukunft bedeutet, was auch dazu führt, dass viele von ihnen keine Kinder mehr wollen. Sie können sich keine Wohnungen mehr leisten, wie es für ihre Eltern nach Jahrzehnten des Immobilienbooms und der Immobilienblase möglich wurde. Präsident Xi Jinping hat mit strikten Regulierungsmaßnahmen, die die Blase zum Platzen bringen sollten, der Wirtschaft eine harte Landung beschert. Die Immobilienindustrie war der wichtigste Wachstumsmotor des chinesischen Bruttoinlandsprodukts. Er ist zum Stillstand gekommen und damit das Wachstum.
Seit seiner Amtsübernahme 2012 hat Xi die Konzentration der Macht beim Staat, also bei sich selbst, immer weiter beschleunigt. Seine direkten Interventionen in die Wirtschaftspolitik haben sich dabei als wenig hilfreich erwiesen. Der von der Gesellschaft erwirtschaftete Wohlstand fließt mehr und mehr in Richtung Staat, was den Konsum der gewöhnlichen Bürger nachhaltig schwächt. In Krisenzeiten hilft der Versuch der Regierung, den Konsum zu stimulieren, darum recht wenig – die Menschen haben einfach nicht viel Geld zum Ausgeben übrig. In den vergangenen Jahren sind alle Versuche ambitionierter Beamter wie auch die Anstrengungen der Unternehmer an der Kombination dieser Fakten gescheitert. Zwar haben drei Jahre Pandemie alles noch schlimmer gemacht, die Ursachen der Malaise aber sind älter, sodass auch das Ende der Pandemiepolitik die Probleme nicht gelöst hat.
Offiziell gibt es immer noch optimistische Stimmen. So schrieb etwa Xu Lei, der frühere CEO von Jingdon, einer der führenden E-Commerce-Plattformen in China, unlängst auf seinem Social-Media-Account: "Wer glaubt, dass wir in einen Abschwung im Konjunkturzyklus geraten sind, begeht einen schrecklichen Fehler. Es ist das Ende der einen Ära und der Beginn einer neuen." Chinesische Journalistinnen und Journalisten hören bei ihren Recherchen aber ganz andere Dinge, die sie wegen der immer restriktiveren Zensur nicht veröffentlichen können. Das Ministerium für Staatssicherheit hat ganz offen allen gedroht, die "die chinesische Wirtschaft mit falschen Darstellungen schlechtzumachen" versuchten.
Depression und Spott
Und so werden diese Geschichten nur in Telefongesprächen und beim Abendessen erzählt. Ich habe auf diese Weise erfahren, dass immer mehr reiche Chinesen alles daran setzen, ihre Vermögen jenseits der Grenze zu schaffen, sei es in Form von Kunstwerken oder als Bitcoins. Dass einst enorm erfolgreiche Unternehmer ihre Firmen möglichst unbemerkt aufsplitten und dann eine nach der anderen schließen, bevor sie sich ins Ausland absetzen. Und dass man erfahrene Manager einhellig seufzen hört: "So schlechte Zeiten wie heute haben wir noch nie erlebt."
Ein Journalist berichtete mir von drei Neujahrsessen mit Freunden und Wirtschaftsleuten: "Früher dauerten solche Feiern von sieben Uhr abends bis Mitternacht, es wurde heiß und kontrovers diskutiert, aber heute versinken alle nach einer Stunde in Schweigen." Das BIP sei doch um 5,2 Prozent gewachsen, so schlimm kann es doch gar nicht sein, wandte ich ein. "Wer glaubt denn noch diesen Zahlen? Alle, die sich auskennen, sagen mir, dass die wahre Zahl bei unter 2,5 Prozent liegt. Manche halten sogar negatives Wachstum für möglich", entgegnete er mit schmerzlichem Lächeln. "Sieh dich doch um. Geschäfte und Fabriken schließen, überall schrumpft der Konsum. Exporte sind weniger profitabel als früher. Wo soll denn dieses Wachstum herkommen?"
Am 2. Februar hat der chinesische Aktienmarkt nun für weitere zwei Billionen Yuan an Wert verloren. Am selben Tag hat die staatliche Zeitung People's Daily einen Bericht veröffentlicht, in dem es hieß: "Das ganze Land findet zu einer optimistischen und positiven Atmosphäre zurück." Das war ein Zitat von Renate Koppe, der Internationalen Sekretärin der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Sie war zu einem Seminar an der Renmin-Universität in Peking eingeladen worden und hatte sich nach einer arrangierten Tour durch China entsprechend geäußert. Das wurde dann von Internetnutzern am Tag des Aktienabsturzes höhnisch verbreitet.
Sosehr der Spott für Frau Koppe verdient sein mag – manche deutsche Wirtschaftsbosse sind auch nicht klüger. Der chinesischen Niederlassung eines deutschen Unternehmens wurde ein viel zu optimistisches Wachstumsziel vorgegeben. Wie kam man darauf? Man glaubte an das von Peking behauptete BIP-Wachstum von 5,2 Prozent. Es ist für niemanden leicht, den Beginn einer neuen Ära zu akzeptieren. In China und andernorts.