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Keine Rede zum Ukraine-Krieg kommt ohne Verweis auf Wladimir Putin und seine Untaten aus: Aggressor, Kriegsverbrecher, Gewaltherrscher. Das Sündenregister lässt sich beliebig lange fortsetzen. Im wohligen Gefühl seiner Empörung übersieht der Westen allerdings eines – mit welcher Konsequenz Putin auf die Unterwerfung der Ukraine und eine grossrussische Einflusssphäre in Europa hinarbeitet. Diente sie nicht solch niederen Zwecken, würde die Zielstrebigkeit Respekt heischen.
Die Ukraine trat erst mit den Protesten auf dem Maidan ins westeuropäische Bewusstsein. Für Putin hingegen war sie schon lange der Fixstern seiner neoimperialen Politik. Erfolgreich brachte er den damaligen ukrainischen Präsidenten Janukowitsch von seinem proeuropäischen Kurs ab. Was dann kam, waren Etappen in einem von langer Hand vorbereiteten Drehbuch: die Annexion der Krim und die Okkupation der Ostukraine, nicht gerade ermöglicht, aber auf jeden Fall erleichtert durch die Naivität des Westens und die Gier nach Gas.
Der Kreml-Herrscher erkannte die Schwächen seiner Gegner
Der Kriegsbeginn war der Gipfelpunkt. Dem allerdings folgte eine Serie von Rückschlägen: der erfolgreiche Widerstand der Ukrainer, der rasche Verlust gerade erst eroberter Gebiete und andere katastrophale Fehlleistungen der russischen Kriegsmaschinerie. Doch Putin gab nicht auf, er widerstand, und er lernte.
Sukzessive korrigierte seine Armee ihre Mängel, und sie verstand, ihre Stärken auszuspielen: etwa ihre Luftüberlegenheit, mit der sie zwei Drittel der ukrainischen Energieproduktion zerstörte. Russland stellte auch schnell auf Kriegswirtschaft um und produziert derzeit mehr Waffen, als es in der Ukraine benötigt. Inzwischen dominieren die russischen Streitkräfte auf dem Schlachtfeld. Die an Zahl und Ausrüstung unterlegenen Ukrainer weichen erschöpft und demoralisiert zurück.
Putin kalkulierte auch die Schwächen seines zweiten Gegners in diesem Krieg, des Westens, richtig ein. Den fragilen Widerstandswillen der Europäer beispielsweise oder die Polarisierung der amerikanischen Innenpolitik. Putin, der Stratege.
Kein Wunder, dass der Kreml-Herrscher auf die antiliberalen Kreise in Europa und den USA eine solche Anziehungskraft ausübt. Das Böse fasziniert, vor allem wenn es Erfolg hat. In seiner Dämonie ist Putin ein anderer Staatsmann als die Führer des freien Europa, Scholz und Macron. Der eine ein Zauderer, der andere ein Schwätzer.
Deutschland liefert wie kein anderes europäisches Land Rüstungsgüter an Kiew. Gleichzeitig bringt es Scholz mit seiner Zögerlichkeit fertig, den Eindruck zu erwecken, als fürchte er Putins Vergeltung. Macron ergeht sich in Kraftmeierei, etwa seiner Ankündigung, Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden. Doch den Worten folgen keine Taten. Was Macron zu viel an Selbstbewusstsein hat, fehlt Scholz. Zusammen sind die beiden die Inkarnation europäischer Verwirrung.
Gelänge es der russischen Armee, die Ukraine zweizuteilen und alle Gebiete östlich des Dnipro zu erobern, würde Putin triumphieren. Er wäre dann zwar immer noch ein Aggressor, Kriegsverbrecher und Gewaltherrscher. Er wäre aber auch ein Sieger. Und die Geschichte ist mit den Siegern.
Wird der Krieg am Dnipro «eingefroren» (wie die deutsche Sozialdemokratie in ihrer Blauäugigkeit einen solchen Triumph des Kremls nennt), bestimmt Moskau zum dritten Mal nach 1815 und 1945 das Schicksal Europas.
Die Mischung aus siegreichen Divisionen und politischer Entschlossenheit verliehe Putin eine Macht, der sich vor allem in Mittel- und Osteuropa kaum jemand entziehen könnte. Nachdem sich Nato und EU drei Jahrzehnte ostwärts ausgedehnt haben, würde nun die russische Einflusszone wachsen: in Richtung Westen. Obendrein hätte Putin der ganzen Welt vorgeführt, wie verletzlich der «Westen» ist, dieses seltsame Konstrukt aus wirtschaftlicher Stärke und moralischer Hybris.
So weit muss es nicht kommen. Der Krieg ist noch nicht entschieden. Das jüngste amerikanische Hilfspaket im Wert von 61 Milliarden Dollar verschafft Kiew die dringend benötigte Atempause. Es dauert noch einige Wochen, bis Waffen und Munition die Front erreichen, aber die Verteidiger werden ausharren. Zwar dürften die Russen weitere Geländegewinne erzielen, der entscheidende Durchbruch bleibt ihnen jedoch mit einiger Wahrscheinlichkeit versagt. Jeder ihrer Erfolge ist zudem mit sehr hohen Verlusten erkauft.
Die Lage ist allerdings immer noch prekär genug, um die Unterstützer der Ukraine zu einer ehrlichen Standortbestimmung zu zwingen. Nichts ist verfehlter als die notorische westliche Selbstzufriedenheit: Der Kalte Krieg wurde gewonnen; man steht auf der richtigen Seite der Geschichte mit einem dank Menschenrechten und Marktwirtschaft überlegenen Modell. Doch ist der Westen heute noch derselbe Westen, der einst in der Konfrontation mit der Sowjetunion obsiegte?
Damals gehörte es zu den unerschütterlichen Gewissheiten, dass freie Gesellschaften zwar langsam und widersprüchlich handeln, dass sie aber aufgrund des periodischen Machtwechsels und der konstanten Kritik von Opposition und Medien ihre Fehler korrigieren. Die Adaptionsfähigkeit galt als der entscheidende Vorteil gegenüber Diktaturen. Das ist vorbei. Lernfähigkeit demonstriert vor allem Putin.
Die Freunde der Ukraine machen ihre Fehler in Endlosschleife. Obwohl der Krieg nun schon in den dritten Sommer geht, liefern sie ihre Rüstungsgüter stets nach demselben Motto: zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Mit Selbstgefälligkeit stoppt man Putin jedoch nicht.
Autoritäre Regime können mit freien Gesellschaften konkurrieren
Zu Beginn des Krieges war die Zurückhaltung angebracht. Man wollte Putin nicht durch eine Überreaktion reizen und hoffte auf einen raschen Friedensschluss. Inzwischen sind die Fronten geklärt und die Illusionen zerstoben. Der Westen und Russland sind Feinde. Sie werden es für lange Zeit bleiben, auch wenn die Waffen schweigen. Der neue kalte Krieg ist Realität, obwohl er diesmal nur ein regionaler ist. In Asien ist die Situation noch eine andere. Dort brauchen der Westen und China einander wirtschaftlich noch viel zu sehr.
Gegenüber Russland ist jede Zurückhaltung überholt. Die westliche Strategie kann nicht mehr lauten, die Überlebensfähigkeit der Ukraine halbwegs zu sichern. Inzwischen geht es darum, Kiew zum Sieg zu verhelfen. Es geht darum, das Kalkül Putins mit aller Macht zu durchkreuzen, damit er am Ende nicht als der grosse Stratege dasteht.
Autoritäre Regime können längst mit freien Gesellschaften konkurrieren. In den Augen vieler erweisen sie sich sogar als überlegen. Der Krieg ist auch ein Schaulaufen im grossen Konflikt der Systeme. Die Zielstrebigkeit Putins und die Halbherzigkeit seiner Gegner in Berlin oder Paris sind jedenfalls keine Werbung für die Demokratie.
Setzt sich der Kreml durch, wird das Renommee des Westens weiter geschwächt. Das könnte auch die Machtbalance in Asien zuungunsten der USA und der EU verändern. Nach Afghanistan noch die Ukraine – irgendwann wird aus einem Verlierer-Image eine Tatsache. Sie könnte Peking zu einer rabiateren Gangart etwa gegenüber Taiwan ermutigen.
Dieser Gedankengang scheint selbst Trump plausibel. Immerhin zog er seinen Widerstand gegen das US-Hilfspaket zurück. Er hatte wohl die Geheimdienstberichte über die erlahmende Durchhaltefähigkeit der Ukrainer und Putins nahenden Sieg gelesen.
Die Europäer sollten nicht hinter Trump zurückstehen. Zumal sie noch einen weiteren Anreiz haben, um Russland entschlossen entgegenzutreten. Bei den Wahlen zum EU-Parlament können die Rechtspopulisten überall in Europa deutliche Zugewinne erwarten. Nicht wenige von ihnen sind der Faszination des Bösen längst erlegen. In ihren Reihen wimmelt es von Kreml-Groupies und chinesischen Spionen.
Manche Wähler in der ehemaligen DDR und in Mitteleuropa werden ihr Kreuzchen bei den Rechtspopulisten machen, weil sie Angst vor «dem Russen» haben. Die jahrzehntelange sowjetische Okkupation steckt ihnen in den Knochen. Appeasement aus Erfahrung.
Wer den Siegeszug etwa der AfD in Deutschland stoppen will, darf sich nicht aufs Demonstrieren und Lamentieren verlegen. Er muss zeigen, dass der Westen stark ist und allen illiberalen oder autoritären Modellen überlegen. Nur Leistung zählt – bei der Eindämmung der Migration wie auf den ukrainischen Schlachtfeldern. Der dämonische Zauber Putins wird nur gebrochen, wenn er eine unzweideutige Niederlage erleidet.