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"CDU und Zuwanderung
Die »Leitkultur« ist eine notwendige Pausentaste
Die Aufregung über das CDU-Grundsatzprogramm ist groß. Dabei steht der Begriff Leitkultur für den legitimen Anspruch, gesellschaftliche Veränderungen zu bremsen, wenn es zu viel wird.
Eine Woche ist das Grundsatzprogramm der Christlich Demokratischen Union nun auf dem Markt, und man darf sagen: Die CDU ist jenen, die sie nie wählen würden, nicht ganz gleichgültig. Das hat etwas Tröstliches."
In der »Süddeutschen Zeitung« und der »Zeit« arbeitet man sich routiniert und pflichtschuldig an dem Text ab. Deutlich direkter wird Jakob Augstein in unserem podcast. Er nennt die CDU eine »ausländerfeindliche Schweinepartei«.
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Im SPIEGEL-Leitartikel schreibt Stefan Kuzmany , dass der Satz »Muslime, die unsere Werte teilen, gehören zu Deutschland« eine »Beleidigung für Millionen Menschen muslimischen Glaubens« sei und ein »gefährliches Integrationshindernis«. Das kann man so betrachten, doch die einhergehende Sichtfeldverengung erübrigt nicht die Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Wesen dieses Satzes und des ebenfalls inkriminierten Begriffes »Leitkultur«. »›Unsere Werte‹, von denen die CDU spricht, bezeichnen also eher einen Besitzstand (…)«, schreibt Claudius Seidl in der FAZ, und obwohl auch er es nicht positiv meint, hat er die Sache am Wickel. Es geht um einen Besitzstand: um den Stand der Dinge nämlich und die Veränderungskräfte, die an ihm zerren.
Abseits vom Anteil persönlicher Traumatherapie, die Friedrich Merz zum Comeback der »Leitkultur« geleitet haben mag, geht es im Kern um diese Frage: Wenn nicht alles, was sich verändert, auch Fortschritt ist – gibt es dann ein Recht auf Stillstand? Diese Frage treibt nicht nur die Konservativen um, sondern auch die Realisten unter Sozialdemokraten und Grünen. Nicht umsonst finden sie, dass das zunächst so vermurkste Heizungsgesetz das vorläufige Ende der großen Zumutungen in der Klimaschutzpolitik markieren soll. Es wird alles ein bisschen viel gerade.
Auch die CDU sucht nach der guten Grenze zwischen Veränderungen und gesellschaftlichem Status quo als Besitzstand. Als konservative Partei in der Opposition nimmt sie dabei selbstredend auch den mitunter zerbrechlichen Zusammenhalt von mehr als 84 Millionen Menschen in Deutschland auf. »Leitkultur« will in diesem Kontext sagen: Das Land wird nicht automatisch besser, wenn immerfort mehr Fremde zuwandern, die es verändern. Stattdessen könnte es auch einmal eine Weile so bleiben, wie es ist.
Deutschland muss nicht (mehr) beweisen, dass es ein weltoffenes Land ist. Mit der millionenfachen Aufnahme von Flüchtlingen und Asylsuchenden, mit der sonstigen Zuwanderung sowie dem inzwischen erreichten Anteil der Bevölkerung mit Migrationsgeschichte scheint mir der Beweis hinreichend geführt. »Liebe Ausländer, lasst uns mit den Deutschen bitte nicht allein«, riefen vor Jahrzehnten die Linken und die Multikultis. Ist erledigt, kann man sagen, und nicht nur, weil knapp die Hälfte aller arbeitslos gemeldeten Bürgergeld-Bezieher keinen deutschen Pass haben.
Die Zahl der Asylsuchenden pro Jahr ist bald um 50 Prozent höher als jener Level, auf den CDU und CSU in der damaligen Großen Koalition einst zielten. Weit über 300.000 Erstanträge werden es sein. Und die Zusammensetzung der Antragsteller ändert sich gerade rasant. Im November lagen die Anträge von türkischen Staatsbürgern, die in den letzten drei Monaten um 57 Prozent zugenommen haben, nur noch knapp hinter den Syrern auf Platz 2 der Monats-Statistik. Die Türkei ist Nato-Mitglied und EU-Beitrittskandidat, die Anerkennungsquote der Anträge liegt unter 15 Prozent, aber in die Heimat zurückgebracht wurden 2023 nur einige Hundert Personen.
Dem kann man einfach zuschauen, man muss aber nicht. Man kann, wie die CDU in ihrem Grundsatzprogramm, zweierlei Haltung und Ziel postulieren, gleichsam als gesamtgesellschaftliches fate control.
Zum einen ist das die Absicht, deutsche Asylverfahren und das vorherige Erreichen deutschen Bodens voneinander zu trennen, weil es gegenwärtig nahezu egal ist, ob das Verfahren auf deutschem Boden mit oder ohne Anerkennung endet: Wer erst einmal da ist, kann fast immer bleiben und das auf Dauer. Wenn demnächst Palästinenser aus Gaza in nennenswerter Zahl in Deutschland Asyl beantragen sollten, wird sich auch die Linke diesem jetzt so verlachten Vorschlag stellen müssen. Jüdisches Leben zu schützen, ist auch auf deutschem Boden Staatsräson – und, siehe da, gewiss auch »Leitkultur«.
Dieser Anspruch lässt sich mithin auch als eine Art migrationspolitische Nachsorge lesen: für den nicht unwahrscheinlichen Fall nämlich, dass Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen weiterhin gewünscht oder nicht zu verhindern ist. Leitkultur, wenn verständlich und überzeugend ausformuliert, kann einer womöglich schnell wachsenden kulturellen Disparität vorbeugen: Alle, die als nächste kommen, sollen sich um rasche Assimilierung an das, was ist, bemühen. Gelänge das, würde sich das Land auch bei unverminderter Zuwanderung nicht weiter im gegenwärtigen Tempo verändern.
»Leitkultur« ist die Pausentaste der 20er Jahre, Atempause vom gesamtgesellschaftlichen Veränderungsstress, den so viele empfinden. Ist das eine Utopie? Vielleicht. Aber selbst wenn: Dafür sind Grundsatzprogramme da, besonders die konservativen."