"Nein, ein Kopftuch und ein Kreuz sind nicht dasselbe. Die Mehrheitsgesellschaft muss das Recht haben, Traditionen anders zu gewichten
Um negative Folgen der Migration zu unterbinden, werden oft Regeln erlassen, die alle einschränken, auch die Einheimischen. Ein falscher Ansatz.
Kürzlich verzichtete eine Schulbehörde im Kanton St. Gallen auf die Einstellung einer Lehrerin, die mit Kopftuch unterrichten wollte. In der darauffolgenden Debatte hörte man oft das Argument, wenn eine Lehrerin kein Kopftuch tragen dürfe, dann sollte das Verbot auch für christliche Kreuz-Halsketten oder jüdische Kippas gelten. Wolle man die öffentliche Schule frei von religiösen Einflüssen halten, so müssten die Symbole aller Glaubensrichtungen verschwinden. Ein Kreuz im Schulzimmer, wie das etwa im Wallis oder in Bayern Tradition ist, wäre dann erst recht verboten.
Für radikale Freidenker, die eine grundsätzliche Abneigung gegen alles Religiöse haben, kommt der Kopftuchstreit deshalb gerade recht. Doch auch viele moderate Stimmen finden, wenn das eine verbannt werde, weil man es für problematisch halte, so müsse auch das andere weg. Dies sei eine Frage der Gerechtigkeit und Gleichbehandlung.
Dieses Vorgehen, bei Problemen mit einer Minderheit eine allgemeingültige Regel einzuführen, die dann auch die Alteingesessenen betrifft, wird kaum je hinterfragt. Man will ja niemanden ausgrenzen.
31 Prozent der Einwohner sind nicht in der Schweiz geboren
Doch ist es tatsächlich diskriminierend, wenn Menschen, die seit Generationen in einem Land leben, der eigenen Kultur gewisse Privilegien einräumen? Meistens wird das so gesehen, auch von Gerichten. Aber nicht immer. In der Schweiz geben nur 40 000 Menschen Rätoromanisch als Hauptsprache an. Bei Albanisch sind es 300 000, bei Englisch 560 000 Menschen. Trotzdem ist Rätoromanisch eine Landessprache mit einem eigenen SRG-Programm und Subventionen in Millionenhöhe. Albanisch- und englischsprachige Menschen erhalten dies nicht, obschon sie die deutlich grösseren Gruppen sind. Eigentlich ungerecht. Aber dass Rätoromanisch eine alteingesessene Sprache ist, wird höher gewichtet – und niemand stellt das infrage.
Bei diesem Beispiel handelt es sich um einen Sonderfall, da es zwar um Einheimische geht, aber doch um eine Minderheit. Man könnte den Schutz der Rätoromanen mit jenem der indigenen Bevölkerung in Nordamerika oder Australien vergleichen. Auch sie geniesst einen speziellen Status, der weitgehend unbestritten ist.
Was aber ist mit der Mehrheit? Hat auch sie einen gewissen Schutz verdient? Darf sie ihre Kultur höher gewichten als jene von Zuzügern? In Zeiten hoher Einwanderung gewinnt diese Frage zunehmend an Bedeutung. In der Schweiz sind über 31 Prozent der Bevölkerung nicht im Land geboren. In Österreich beträgt der Anteil 22, in Deutschland und Schweden 20 Prozent. Solch hohe Migrationszahlen sind global gesehen eine Ausnahme. Laut Uno leben weltweit nur 3,7 Prozent der Menschen nicht in ihrem Geburtsland.
Halal in der Kantine
Die Auswirkungen auf die Gesellschaft sind nicht zu unterschätzen, der Kopftuchstreit an der Thurgauer Schule gehört noch zu den kleineren Auseinandersetzungen. Der deutsche Soziologe und Bestsellerautor Aladin El-Mafaalani glaubt, dass die Konflikte weiter zunehmen, je besser die Integration voranschreitet. Er spricht von einem «Integrationsparadoxon»: Gut integrierte Migranten beanspruchten irgendwann einen Platz am Tisch der Einheimischen. Sie wollten dann nicht nur ein Stück vom Kuchen, sondern auch bei der Tischordnung und dem Menu mitbestimmen. Für jene, die schon lange da seien, sei das nicht einfach.
Kritiker werfen El-Mafaalani vor, das wahre Problem zu ignorieren: dass die Integration oft nicht gelingt. Tatsächlich ist in der zweiten und dritten Generation zum Teil sogar ein Rückfall festzustellen, gerade bei muslimischen Jugendlichen.
El-Mafaalanis Tisch-Metapher lässt sich dennoch hervorragend auf reale Fälle übertragen: Wenn in Kantinen aus Rücksicht auf Muslime kein Schweinefleisch mehr aufgetischt wird oder wenn eine Lehrerin darum bittet, bei der Schulreise keinen Cervelat (die Schweizer Nationalwurst) mitzunehmen, da dieser das Halal-Fleisch der Muslime auf dem Grill kontaminieren könnte, so sorgt das in Boulevardmedien und in den sozialen Netzwerken stets für Empörung. Dabei geht es weniger um die Sache an sich – es gibt auch andere feine Würste als Cervelat –, sondern um das Signal, das ausgesendet wird: dass die eigene Kultur hintenanstehen muss, sie keinen hohen Stellenwert mehr geniesst.
Minderheitenschutz für die Mehrheit
Während El-Mafaalani Veränderung und Anpassung als natürlichen Prozess anschaut, mit dem die Gesellschaft umzugehen habe, findet der niederländische Migrationsforscher Ruud Koopmans, die Einheimischen seien legitimiert, der eigenen Kultur in gewissen Bereichen Vorrang zu gewähren, also die Regeln am Tisch zu bestimmen und durchzusetzen. Die Minderheitenrechte, die mittlerweile durch zahlreiche internationale Rechtsnormen anerkannt sind, sollten auch für Mehrheitsgruppen gelten, findet er. In einem 2020 veröffentlichten Papier hebt Koopmans zwei Bereiche hervor, in denen Mehrheiten kulturell besonders verwundbar seien und rechtlichen Schutz benötigten: bei der Regulierung der Zuwanderung und bei der Repräsentation ihrer nationalen Identität im öffentlichen Raum.
Koopmans, der an der Berliner Humboldt-Universität lehrt, erntet für seine Ansichten viel Kritik. Zum Teil ist dies nachvollziehbar: In einer Demokratie verfügt die Mehrheit über die absolute Macht, deshalb bedarf sie laut der gängigen Lehre im Gegensatz zu den Minderheiten keines besonderen Schutzes. Hinzu kommt, dass gemäss der an den Unis stark verbreiteten postkolonialen Theorie weisse Europäer per Definition privilegiert sind und zu den Unterdrückern gehören, während Migranten stets die Opfer sind.
Koopmans sieht das anders. In einer globalisierten Welt seien die Mehrheitskulturen in Europa schon ohne Migration einem starken Assimilationsdruck ausgesetzt, ähnlich wie nationale Minderheiten oder indigene Gruppen innerhalb eines Landes. Auf die Schweiz umgemünzt würde das heissen: Unsere drei Hauptkulturen (jene der Deutschschweiz, der Romandie und des Tessins) sind auf globaler Ebene ähnlich gefährdet wie die rätoromanische Kultur auf der nationalen. «Freie Märkte, internationale Medien, das Internet und der globale Verkehr stellen die Vorstellung von kultureller Einzigartigkeit infrage», schreibt Koopmans. Die «transkulturelle Diffusion» sei heute grösser als je zuvor in der Geschichte der Menschheit.
Falsche Rücksicht
Europäische Kulturen stehen also doppelt unter Druck: durch die Dominanz der globalisierten angelsächsischen Kultur und die starke Migration. Viele Vorortsquartiere von europäischen Grossstädten sind bereits so stark von der Einwanderung geprägt, dass kaum mehr von einer Mehrheitsgesellschaft im ursprünglichen Sinne gesprochen werden kann. In einer globalisierten Stadt wie Zürich verhalten sich viele Expats so, als befänden sie sich in einem englischsprachigen Land. In Restaurants und auf der Strasse wird man oft direkt auf Englisch angesprochen, und auch die Behörden haben reagiert: Ansagen in öffentlichen Verkehrsmitteln und städtische Mitteilungen erfolgen immer häufiger auch auf Englisch.
Diese Art der Rücksichtnahme ist vergleichsweise harmlos. In Grossbritannien werden seit einigen Jahren islamische Schlichtungsgremien toleriert, die sich an der Scharia orientieren. Deren Urteile – in der Regel zu Familienangelegenheiten wie Scheidungen – sind zwar nicht rechtsgültig, haben aber laut Frauenrechtlerinnen verheerende Auswirkungen, insbesondere für Frauen, die sich oft nicht getrauten, an staatliche Gerichte zu gelangen. Mehrere europäische Länder wenden in gewissen familienrechtlichen Angelegenheiten sogar offiziell das Recht an, welches im Herkunftsland der Betroffenen gilt.
Bei der ganzen Debatte wird oft übersehen, dass die Stimmen, die solche Anpassungen fordern, oft nur kleinen, aber gut organisierten Gruppen angehören. Manchmal stehen sogar Aktivisten ohne Migrationshintergrund dahinter. Für die meisten Migranten ist es selbstverständlich, dass man sich an die Regeln der neuen Heimat anpasst. Als in der Schweiz 2009 über ein Verbot von Minaretten abgestimmt wurde, warnten Experten vor schlimmen Reaktionen bei einem Ja. Das Volk sagte Ja – und es passierte: nichts. Natürlich sprachen danach einige von Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit, die meisten Schweizer Muslime allerdings fanden den Entscheid nicht so schlimm, vereinzelt wurde sogar Verständnis gezeigt.
Westliche Mehrheitsgesellschaften müssen ihre Werte und Traditionen selbstbewusster verteidigen, wollen sie in dem von Globalisierung und Migration geprägten Umfeld ihre Eigenheiten und ihre Identität bewahren. Dies liegt auch im Interesse all jener Migranten, die die freiheitliche Werteordnung zu schätzen wissen – und genau deswegen hierhergezogen sind. Für diese Menschen ist in der Regel völlig klar, dass in einem Land mit einer christlichen Tradition ein muslimisches Kopftuch und ein Kreuz-Halskettchen nicht dasselbe sind. Nur wir selber scheinen das zunehmend zu vergessen.
Ich persönliche sehe das nahezu exakt wie der eidgenössische Author dieses Kommentars ! Dem Abbau von Traditionen und Überzeugung auf Basis der vermeintlichen "Weltoffenheit" muss Einhalt geboten werden bevor es eben diese europäischen Werte wesgen man sich aus aller Herren Länder auf den Weg hier her macht am Ende gar nicht mehr gibt.