Karl Sasserath: Mönchengladbach ist ein Logistik-Hotspot in Deutschland, Zalando, Amazon, DHL … die sitzen hier alle. Der Logistiksektor zieht Menschen aus der ganzen Welt an. Wir haben es also mit einem globalisierten Beschäftigungsfeld zu tun.
Das bedeutet?
Sasserath: 80 Prozent der Menschen, die wir beraten, haben einen Migrationshintergrund.
Und warum kommen die zu Ihnen?
Sasserath: Weil sie Unterstützung brauchen und es sich offensichtlich herumspricht, dass wir helfen können. Da gilt es, Behördenklauseln zu verstehen, Mietverträge genau zu lesen, zu schauen, wie das Existenzminimum gedeckt werden kann, wenn das Arbeitseinkommen nicht reicht. Durch Wohngeld oder den Kindergeldzuschlag zum Beispiel. Viele der Menschen, die zu uns kommen, sind sogenannte Aufstocker.
Bürgergeldempfänger also. Menschen, die von den angedachten Verschärfungen betroffen wären.
Sasserath: Ja, und das sehen wir mit Sorge. Ich habe wirklich sehr detailliert Einblick und kann Ihnen sagen: Von dem, was diese Leute monatlich an Geld bekommen, können sie den Lebensunterhalt nicht bestreiten.
Denken Sie an die gestiegenen Wohnungskosten. Hier in Mönchengladbach haben wir es laut einer aktuellen Umfrage mit einem Anstieg von über 40 Prozent in acht Jahren zu tun. Viele Menschen müssen aus der Regelleistung von 563 Euro monatlich Beträge zwischen 50 und 200 Euro abzweigen, um die Miete zu bezahlen. Bedenken wir außerdem die gestiegenen Stromkosten in der Grundversorgung. Was die Leute da mittlerweile an Abschlägen zahlen, ist immens.
Vor diesem Hintergrund ist die laufende Diskussion übers Bürgergeld grotesk - schlimm, wie da polemisiert und pauschalisiert wird. Als hätten wir Heerscharen von Menschen, die nichts anderes wollen, als den Sozialstaat auszubeuten.
Sie sehen das also anders?
Sasserath: Ganz anders. Fast alle, die zu uns kommen, haben eine hohe Motivation, zu arbeiten. Das soziale Netz, das wir hier in Deutschland haben, kennen sie aus ihrer Heimat so nicht. Aber den Solidargedanken schon.
Eine große Gruppe, die wir betreuen, sind Frauen aus Somalia. Auch eine Gruppe aus Eritrea und Nigeria kommt zu uns. Amazon soll die Leute in der jeweiligen Landessprache schulen, habe ich gehört. Vermutlich ein Anreiz, hier nach Mönchengladbach zu kommen - oft mit der Familie, mit Kindern, die natürlich versorgt sein wollen. Häufig gibt es darüber hinaus Familienangehörige im Heimatland, die geholfen haben, die Flucht zu finanzieren und denen man etwas zurückzahlen muss. Manchmal ist ein kranker Elternteil zurückgeblieben. Oder ein Kind sitzt noch irgendwo in einem Flüchtlingslager …
Diese Menschen kann Deutschland aber nicht alle retten. Das ist ja das Problem.
Sasserath: Aber Deutschland muss sich auch darüber im Klaren sein, was es diesen Menschen zu verdanken hat. Nehmen wir Leute, die im Reinigungsgewerbe tätig sind. Das sind die, die nachts unsere Büros putzen, damit wir uns morgens an einen sauberen Arbeitsplatz setzen können. Menschen, die für uns wie unsichtbar, wie nicht existent sind, weil sie kommen, wenn wir längst weg sind.
Oder bleiben wir bei der Logistik. Wenn ich die Ware, die ich online bestellt habe, am nächsten Tag bekomme, hat das Gründe. Die sogenannten „Picker“ machen einen extrem harten, körperlichen Job. Picker sagt man, weil sie die bestellte Ware aus Hochregallagern herauspicken. In einem irrsinnigen Tempo.
Erst neulich ist ein Mann, der bei mir in der Beratung war, am Arbeitsplatz zusammengebrochen und mit dem Notarzt ins Krankenhaus gekommen. Als er aus dem Krankenhaus kam, fand er zu Hause die Kündigung vor. Wir führen hier sehr intensive Gespräche, wir bekommen solche Dinge wie Arbeitsausbeutung mit. Auch die ganzen biografischen Hintergründe bekommen wir mit.
Worauf spielen Sie an?
Sasserath: Dass es zynisch ist, zu behaupten, das Bürgergeld würde diese Menschen davon abhalten, einer Arbeit nachzugehen. Wir erleben genau das Gegenteil! Die Leute arbeiten bis zum Umfallen. Oft übrigens, ohne sich zu beklagen. Man muss da schon sehr intensiv und immer wieder nachhaken, bis mal sowas wie leise Kritik geäußert wird. Meine Kollegen und ich staunen immer wieder darüber, wie stoisch die teils wirklich untragbaren Zustände hingenommen werden.
Was genau ist untragbar?
Sasserath: Wir sehen Beschäftigungsstrukturen, die ganz klar ausbeuterisch sind. Das ist das eine. Darüber hinaus sehen wir Menschen, die Anträge zu stellen haben und ein Drittel ihrer Zeit – kein Witz, das ist wirklich so – damit zubringen, zwischen den verschiedenen Behörden hin und her zu rennen. Die von Hü nach Hott geschickt werden und das alles, wie gesagt, klaglos über sich ergehen lassen. Aber was ich eigentlich sagen will, ist etwas anderes.
Nämlich was?
Sasserath: Diese Art von Bürokratie verursacht immense Kosten. Wieso setzt die Politik nicht an der Stelle an? Ich bin überzeugt: Der Effekt wäre deutlich größer als mögliche Einsparungen durch das, was da gerade landauf, landab diskutiert wird. Nehmen wir die berufstätige Alleinerziehende, die permanent zwischen mehreren Stellen unterwegs ist. Zwischen dem Jobcenter auf der einen Seite …
Und auf der anderen?
Sasserath: Rennt sie zur Wohngeldstelle, die bei der Kommune angesiedelt ist. Und zur Familienkasse, die zur Agentur für Arbeit gehört. Also von insgesamt drei verschiedenen Stellen, bei denen dreimal exakt dieselben Unterlagen eingereicht werden müssen: der Arbeitsvertrag, die Lohnauszüge, der Mietvertrag, Schulbescheinigungen … für mich grenzt das an Schikane.
Fakt ist: Der Datenschutz hebelt die Vorteile der Digitalisierung komplett aus. Für jeden einzelnen Vorgang gibt es eine eigene Akte mit einer eigenen Nummer. Die Nummer der Familienkasse, die Krankenversicherungsnummer, die Steueridentifikationsnummer … noch mal: Weil die eine Behörde nicht auf haargenau die gleichen Daten der anderen Behörde zugreifen kann! Als ob man nicht wüsste, wie es anders ginge.
Wie denn?
Sasserath: Schauen wir nach Norden, nach Lettland zum Beispiel. Da gibt es eine elektronische Akte mit einer Nummer. Für alles. Ganz ehrlich, manchmal frage ich mich, ob unser System gezielt darauf angelegt ist, die Leute zu zermürben – bis sie aufgeben. Die Frage ist nur, wie das Deutschland, das wir kennen, dann noch funktionieren soll.
Ich kann Ihnen das nicht sagen. Aber eines, das sage ich Ihnen: Die Letzten, die in diesem Land das Licht ausmachen werden, sind die Bürokraten. Mit jeweils mindestens drei bis vier Aktenordnern unter jedem Arm!